Eine Minute für die weiße Kakerlake

Sylvie Bantle bereist und erlebt Indien

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte der Indienreisenden ist alt und reich dokumentiert. Erst im vergangenen Jahr hat die Zeitschrift "Horen" diese Geschichte eindrucksvoll mit einem Sonderheft belegt. "One minute" sagen die Indienfahrer der westlichen Welt, die sich - oft für Monate - freinehmen, um an den Ufern des Ganges den Feuerbestattungen zuzusehen (wie Josef Winkler, vgl. seinen Roman "Domra"), um sich in den Hotels von Alleppey eine Auszeit zu gönnen und den Alltag hinter sich zu lassen und auf Samadhi zu warten (wie Sylvie Bantle) oder um in Changanacherry alternative Heilmethoden kennenzulernen, so wie jener an Bechterew (einer schmerzhaften Versteifung der Gelenke) Erkrankte.

Die in München lebende Autorin Sylvie Bantle (geboren 1955) ist eine erfahrene Indienreisende, die ihre Erlebnisse zu kleinen Geschichten transformiert. So hat "Vela Pata", die "weiße Kakerlake", die Frau und Tänzerin, die nach Indien reist, um die klassischen Tänze des Landes zu studieren und sich in einen einheimischen Fischer zu verlieben, womöglich autobiographische Züge. Denn auch die Erzählerin gilt den Einheimischen als "weiße Kakerlake", und diese Attrribuierung ist durchaus freundlich gemeint.

In Sylvie Bantles Erzählungen wird die "andere" Realitätserfahrung des Kontinents beschworen. Die Erzählungen liegen häufig auf der Grenze zum Feuilleton und klingen gelegentlich allzu klischeehaft und simplifizierend. So wird hier etwa die These vertreten, dass man im Westen mit der linken (Hirn-?) Hemisphäre denke, während man auf dem indischen Subkontinent die rechte Hemisphäre einsetze. Exemplifiziert wird diese These am Beispiel der Wendung "one minute", jenem Zauberwort, mit dem man sich nur in Indien freisetzen und für Stunden, Tage, Wochen entschuldigen und absentieren könne.

Sylvie Bantles Geschichten dienen der Unterhaltung und Erbauung, sie sind gelegentlich überinstrumentiert, erklären zuviel und bekommen dadurch einen Kinderton ("Die Geschichte eines kleinen Wurms"). Sie sind sprachlich konventionell, leicht zu lesen und gelegentlich unsicher (Verwechslung von "anscheinend" und "scheinbar", "wagt sich nicht zu bewegen" statt "wagt nicht sich zu bewegen" usw.). Die beigegebenen Zeichnungen von Alexander Devasia sind gut gemeint.

Titelbild

Sylvie Bantle: "One Minute!" Geschichten aus Indien.
Melina-Verlag (Ewald Hein), Ratingen 2000.
136 Seiten, 8,20 EUR.
ISBN-10: 392925560X

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