Wanderer zwischen den Kulturen

Anne Kwaschik würdigt in ihrer Biografie das Werk des großen deutsch-französischen Literatur- und Kulturhistorikers Robert Minder

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn Deutsche die Mentalität der Franzosen oder Franzosen die Mentalität der Deutschen verstehen wollen, führt dies häufig zu Missverständnissen und muss nicht unbedingt der Beginn einer wunderbaren Freundschaft sein. Im Gegenteil hat in der deutsch-französischen Vergangenheit die Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Nachbarn immer wieder ebenso merkwürdige wie hartnäckige, bisweilen ins nationalistisch-chauvinistische driftende Vorurteile befördert. Im schlimmsten Fall haben diese Vorurteile zwar nicht direkt zu kriegerischen Auseinandersetzungen geführt, gleichwohl wurden sie in der Propaganda der wenig ruhmreichen deutsch-französischen Territorialkonflikte gerne aufgerufen und geschürt, um die Mobilisierung gegen den Feind voranzutreiben. Ein ausgesprochen seltener Fall ist es da, dass ein 1902 im elsässischen Wasselone (Wesselheim) geborener Germanist, Essayist und Kulturhistoriker, der sich in den 1920er-Jahren für die politische Zugehörigkeit des Elsass zu Frankreich einsetzte, die deutsche Kultur und Literatur aber als seine geistige Heimat begriff, dass ausgerechnet Robert Minder sowohl in Frankreich und - mehr noch - auch in Deutschland besonders in den 1960er- und 1970er-Jahren einer größeren Öffentlichkeit so bekannt wurde wie kaum ein anderer Literaturwissenschaftler.

Diesem Vermittler zwischen zwei Kulturen, denen er sich gleichermaßen angehörig fühlte, widmet sich die schon durch zahlreiche Publikationen zu Minder in Erscheinung getretene und am Frankreich-Zentrum der FU Berlin beschäftigte, aber in Paris forschende Historikerin Anne Kwaschik in ihrer beieindruckenden und überzeugenden Biografie, deren Grundlage ihre für die Publikation leicht umgearbeitete Berliner Dissertation darstellt. Minder hat Literaturwissenschaft als Kulturgeschichte betrieben, als aus dem Fach heraus noch nicht unzählige Handbücher und Positionserklärungen zu Programm, Selbstverständnis und Zielsetzungen der - bisweilen begrifflich arg überstrapazierten - "Kulturwissenschaften" erschienen waren. Er hat die Literatur konsequent aus einer sozialgeschichtlichen Perspektive dargestellt und interpretiert, als die in den 1970er-Jahren einsetzende 'sozialgeschichtliche Wende' in der Germanistik noch in weiter Ferne war. Diese kultur- und sozialgeschichtlich ausgerichteten Zugriffe auf Texte sind für Minder ebenso entscheidend und bei der Lektüre seiner Werke offensichtlich, wie die Tatsache an sich wieder einmal belegt, dass die heute allerorts proklamierte und im Grunde auch nicht zu kritisierende Umgestaltung der Literaturwissenschaften in eine "polykontextuell" (Gerhard Plumpe) orientierte Kulturwissenschaft keineswegs eine 'Erfindung' unserer Zeit ist, sondern vielmehr schon immer dort praktiziert wurde, wo kulturelle Phänomene in ihrem jeweiligen kontextuellen Entstehungs- Verbreitungs- und Rezeptionsrahmen gesehen und interpretiert wurden.

Robert Minder ist heute nicht vergessen, aber bei weitem und vor allem im nichtakademischen Bereich nicht mehr so präsent wie noch vor dreißig oder vierzig Jahren, als seine Essay-Bände "Kultur und Literatur in Deutschland und Frankreich" (1962), "Dichter in der Gesellschaft" (1966) und "Wozu Literatur" (1972) in einer hohen Auflagenzahl und in renommierten Reihen etwa des Suhrkamp Verlags erschienen sind. Doch wird der eine oder andere Pro- oder Hauptseminarteilnehmer an den germanistischen Instituten auch heute noch auf Minders wegweisende und einschlägige Qualifikationsschriften zu Ludwig Tieck, Karl Philipp Moritz oder Friedrich Hölderlin stoßen und an ihnen auch nicht vorbeikommen.

Im Schatten seiner deutschsprachigen Untersuchungen stand seit jeher Minders mehrbändig konzipierte und unvollendet gebliebene, gleichwohl als Hauptwerk anzusehende Darstellung "Allemagnes et Allemands. Essai d'histoire culturelle", das zuerst 1948 in Paris erschienen ist. Jenem Werk, das in so fruchtbarer Weise sowohl von Joseph Nadlers volks- und stammeskundlichem Literaturbegriff, als auch von der in Frankreich in den späten 1930er- und 1940er-Jahren entstehenden Mentalitätsgeschichte profitiert, widmet sich Anne Kwaschik ausführlich im zweiten Teil ihrer Arbeit. Im ersten Teil zeichnet die Verfasserin die "Stationen der intellektuellen Biographie" Robert Minders nach und knüpft dabei an die jüngst in Frankreich durch eine Vielzahl neuer Publikationen in Erscheinung getretene Intellektuellenforschung an. In anschaulicher Weise geht sie dabei auf die wichtigsten Sozialisationsaspekte Minders während seiner elsässischen Kindheit und Jugend sowie das ihn prägende intellektuelle Milieu in seiner Straßburger Studienzeit und später in Paris ein. Ausführlich stellt Kwaschik die frühe Bekanntschaft mit und die Förderung durch Albert Schweitzer, Romain Rolland und später Alfred Döblin sowie die Freundschaft und den wissenschaftlichen Austausch mit dem Literaturhistoriker André Monglond dar, den Minder nach 1925 in Grenoble kennenlernte. Die Verfasserin arbeitet dabei nicht nur jeweils die persönlichen Beziehungen heraus, sondern sondiert auch klar den intellektuellen und akademischen Hintergrund, aus dem Minder wesentliche Impulse für seine Arbeit empfangen hat.

Doch geht es Kwaschik nicht um "das Postulat von Einflußschemata und Ausschließlichkeitskonstruktion". Überzeugend und wichtig ist diese biografische Skizze für das Verständnis von Minders unvollendetem Hauptwerk, weil Kwaschik dieses "Deutschlandbuch [auch] als ein Beispiel für die im Ergebnis kultureller Zirkulationen entstehenden Umbrüche, Mischformen und Synkretismen" in den Blick nimmt, "deren Produktivität von der Identität der disziplinären Matrix oder epistemischer Strukturen abhängt".

Kwaschiks Studie orientiert sich stets an den vorgegebenen Erkenntnisinteressen. Glücklicherweise werden die einzelnen biografischen Stationen und thematischen Aspekte nicht in ein Methodenkorsett der Intellektuellen- oder Transferforschung gezwängt, wenngleich die Arbeit von beiden Forschungsfeldern profitiert - wie auch Minder selbst Ausschließlichkeitsansprüchen von Methoden ohne den konkreten Blick auf die Texte immer skeptisch gegenüberstand. Auch liegt Kwaschik bei der Vorstellung und Erläuterung von Minders Werken vor dem Zweiten Weltkrieg nicht an einer auf das spätere Hauptwerk ausgerichteten teleologischen Darstellung, sondern sie betrachtet diese in ihrem jeweiligen Entstehungskontext und aus ihren Anliegen beziehungsweise ihrer literaturwissenschaftlichen Bedeutung heraus.

So sieht sie etwa in Minders Arbeit über Ludwig Tieck (1936), die wie seine Studie zu Karl Philipp Moritz erstaunlicherweise zuerst weniger im akademischen als vielmehr in "intellektuellen Literatenkreisen" rezipiert wurde, eine der ersten Qualifikationsschriften, "die das Erklärungspotential der Psychoanalyse literaturwissenschaftlich" genutzt habe. Wenn auch Minders Affinität etwa zu dem Gedankengut Alfred Adlers durch seine Freundschaft mit den Adlerianern Paul Plottke und Manès Sperber von der Verfasserin zumindest nahegelegt wird, so vermisst man doch gerade an dieser Stelle ausführlichere Zitate aus Minders Tieck-Schrift.

Den Beginn von Minders "deutscher Karriere" markiert seine in das Jahr 1951 datierende Aufnahme in die Mainzer Akademie der Wissenschaften, der zahlreiche weitere Ehrungen folgten. Zur selben Zeit lernte Minder auch die Schriftsteller Hans Erich Nossack und Ernst Kreuder kennen, letzterem vertraute er sich immer wieder auch persönlich an. Kwaschik rekonstruiert Minders vielfältige Anteilnahme am deutschen Kultur- und Geistesleben nach dem Krieg, was sich vor allem in seinen Stellungnahmen zu Martin Heidegger und seiner Bedeutung im Kontext der Celan-Goll-Debatte dokumentiert.

In ihrem zweiten Teil widmet sich die Autorin nun Minders Großprojekt, das als "Beitrag zur Mentalitätshistoriographie" verstanden und in eine "völkerpsychologische und stammeskundliche Tradition" gestellt wird. Die Bedeutung einerseits der Pioniere der französischen Mentalitätsforschung, Lucien Febvre und Marc Bloch, andererseits des österreichischen Literatur- und Kulturhistorikers Joseph Nadler arbeitet Kwaschik wissenschaftsgeschichtlich überzeugend heraus. Doch hätte man sich auch hier gewünscht, ausführliche Belegpassagen aus Minders Werk lesen zu können. Dennoch ist Kwaschiks Analyse von Minders Hauptwerk besonders da gelungen, wo sie nicht den kurzen Weg der - prima facie - vergleichbaren Herangehensweisen zwischen Minder und Febvre beziehungsweise Nadler wählt, sondern auch auf die Unterschiede der jeweiligen kulturgeschichtlichen Konzepte eingeht. In erster Linie sieht sie diese zwischen Minder und Febvre in der unterschiedlichen Stellung der Literatur, die ihr im Horizont kultur- und mentalitätsgeschichtlicher Betrachtungen zugestanden wird. Auch knüpfe Minder an Nadlers Stammes-Konzept (Alt- und Neustämme) als "biologisch-soziologische Einheiten" an, ohne aber dessen Gegensatz von Natur- und Kulturvolk fortzuschreiben.

Minders chronologisch angelegte Untersuchung der deutschen Mentalität setzt mit den deutschen Mythen ein und organisiert einen Überblick, der literatur-, kunst-, sozial- und wirtschaftsgeschichtlich relevante Aspekte einbezieht und durch eine von der Verfasserin "aufgrund ihrer Vehemenz" als befremdlich empfundene "Nord-Süd-Dichotomie" gekennzeichnet ist, die Kwaschik als "Nordifikation der deutschen Vergangenheit" klassifiziert. Aus den detaillierten Analysen und Überlegungen zur Bedeutung von Minders Werk lassen sich zwei Momente als Synthese festhalten: Zum einen weist Kwaschik wiederum die Nähe Minders zu zeitgenössischem beziehungsweise älterem soziologischem und psychoanalytischem (Maurice Halbwachs, C. G. Jung) Gedankengut nach. Zum anderen würdigt sie den regionalgeschichtlichen zweiten Teil von Minders Darstellung ("Rheinland und Rheinländer") und die dort vorgenommene "Aktualisierung des Stammeskonzeptes". Gleichwohl sieht sie auch die Schwächen in der Verbindung der beiden Teile und hält fest, dass Minders Deutschlandbuch "die mit der Regionalisierung der nationalen Erinnerungsbilder verbundenen historiographischen Potentiale erkennt und formuliert, aber nicht durchgängig realisieren kann". Kwaschiks Überzeugung, dass dies seinen "historiographischen Wert" nicht schmälert, ist indessen unbedingt beizupflichten.


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Anne Kwaschik: Auf der Suche nach der deutschen Mentalität. Der Kulturhistoriker und Essayist Robert Minder.
Wallstein Verlag, Göttingen 2009.
445 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783835303409

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