Touché

Zu zwei Studien über die Bedeutung des Berührens in den Werken Jaques Derridas und Jean-Luc Nancys

Von Michael MayerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Mayer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es sind die einfachen Fragen, die oft ratlos machen. Weshalb man sie gerne zur Seite schiebt. Oder ihre Beantwortung delegiert. Offensichtlich entlastet es ungemein, sich von Expertensystemen vorrechnen zu lassen, welche biochemischen, genetischen, neurologischen oder gattungsgeschichtlichen Logiken im Spiel sein sollen, beispielsweise wenn man liebt und dem, den man liebt, nahe sein will. Doch was das ist: lieben? Was es heißt, jemandem nahe zu sein, wissen wir nicht. Ein komischer Kauz namens Sokrates toppte einst die Verwirrung noch, indem er die Athenische Informationsgesellschaft mit dem Bonmot narrte, dass sie noch nicht einmal wisse, nichts zu wissen. Was ihn bekanntlich den Kopf kosten sollte. Ein paar Jahrhunderte nach diesem Desaster war das antike Jerusalem der Schauplatz eines anderen Justizmords. Die spektakuläre Verurteilung eines Wanderpredigers namens Jesus traumatisierte und prägte das Abendland nicht minder als die Causa Sokrates'. Doch nicht die Geschliffenheit rhetorischer Finesse wurde Jesus zum Verhängnis, sondern eine Schlichtheit der Rede, die den Skandal, den sie verkündete, mit kindlicher Offenheit preisgab. "Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich." (Joh 14,6)

Die rückhaltlose Identifikation seiner selbst mit Wahrheit aber, die Behauptung, nicht einfach nur wahr zu sprechen, sondern die Wahrheit zu sein, markierte einen fundamentalen Umbruch, dessen Ungeheuerlichkeit noch die Moderne - und sie vielleicht mehr als alles andere - bestimmt. Denn der "logos" wird der Sphäre des Metaphysischen und Ideellen, der unsichtbaren Hinter-Welt entrissen, die Wahrheit selbst sichtbar. In einer kleinen, dichten, bestechend genau geschriebenen Meditation "Noli me tangere", gerade in der Übersetzung von Christoph Dittrich im Diaphanes Verlag erschienen, paraphrasiert der 1940 in Caudéran, Frankreich, geborene Philosoph Jean-Luc Nancy den Befund so: "Der logos unterscheidet sich nicht von der Figur oder dem Bild, denn dessen wesentlicher Gehalt ist genau genommen, dass sich der logos figuriert, vorstellt, präsentiert und zur Darstellung bringt, sich ankündigt als Person, die unerwartet eintritt, die sich und damit das Original der Figur zeigt." Und Nancy zitiert gleichfalls aus dem Johannes-Evangelium: "Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen. Wie kannst du sagen: Zeig uns den Vater?" (Joh 14,9)

Hinter den Worten Jesu indes annonciert sich nicht nur die ganze Komplexität einer Trinitätstheologie, die die Einheit der Verschiedenen zu denken nötigt, sondern auch ein Konzept und eine Praxis von Bildlichkeit, die nach einer jahrhundertelangen Inkubationszeit eigentlich erst in der Moderne und der Kunst der Moderne zu sich kommen sollte. Und vielleicht hat man gar keine Chance, sich angemessen zu solchen Phänomenen wie Visualität, iconic turn oder zur vielbeschworenen Macht der Bilder in ein Verhältnis zu setzen, wenn man diesen monotheistischen Hintergrund außer Acht lässt. Die Identifikation von (Gott) Vater und (Gott) Sohn, von Person und Wahrheit aber dramatisiert nicht nur das Phänomen der Sichtbarkeit und des Sehens. Wenn Jesus die Wahrheit ist, ist diese Wahrheit zu sehen und zu schmecken. Man kann sie lieben. Man kann sie berühren.

Es entbehrt also weder der Konsequenz noch einer ebenso feinen wie feinfühligen Ironie, wenn Jacques Derrida den Freund und Kollegen Jean-Luc Nancy anspricht als "denjenigen, den ich, mich ausgenommen, den größten Denker der Berührung aller Zeiten nenne". Und er tut es in einem Buch, dessen überbordendes Volumen, dessen emphatische Verschlungenheit, dessen Ab- und Umwegigkeit eigenwillig mit Nancys gesammelter Miniatur kontrastiert. Hervorgegangen aus einem englischsprachigen Aufsatz über Nancy mit dem Titel "The Touch" von 1992, legte Derrida "Le Toucher, Jean-Luc Nancy" im Jahr 2000 nach, das, herausgegeben von Brinkmann und Bose und meisterlich übersetzt von Hans-Dieter Gondek, mit zu den schwierigsten Büchern dieses ohnehin schwierigen Autors gehört. Deutlich von der fast nüchternen Klarheit seiner sonstigen, zumal politischen Schriften der Spätphase unterschieden, knüpft es stilistisch an seine experimentell-expressiv anspruchsvollsten Arbeiten wie "Glas" (1974), seiner großen Auseinandersetzung mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel wie auch an die beiden Bände "Die Postkarte" (1980) an, inhaltlich aber vor allem an seine genuin ästhetischen Schriften "Die Wahrheit in der Malerei" (1978) wie auch die "Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstportrait und andere Ruinen" (1990).

Was nämlich Derrida in der Auseinandersetzung mit bildender Kunst suchte, was er zuweilen fast beschwor, war das Mysterium eines Blicks, dem das, was sich ihm darbietet, nicht in abstandsloser Gleichförmigkeit verharrt, der sich von ihm rühren und berühren lässt. Dieser Chiasmus von Berührung und Sehen, von Nah- und Fernsinn zwingt aber nicht nur die Möglichkeit einer Visualität einzuräumen, die mit der zentralperspektivischen Geometrie auch die Frontstellung zwischen Subjekt und Objekt unterläuft. Was nicht erst die Kunst der Avantgarde in ihrer Subversion des Tafelbildes durchexperimentierte. Sie zwingt auch eine Berührung zu thematisieren, die sich ihrerseits zu virtualisieren vermag: eine "Berührung-auf-Distanz", wie sie das tele-technische Disposiv realisieren kann und bei Künstlern realisiert wird, die den Apparaten nicht nur technisch, sondern auch ästhetisch gewachsen sind.

Natürlich wäre Derrida nicht Derrida, wenn er die trotzige Abstraktion seiner Reflexionen nicht mit einer nahezu schmerzlichen Intimität verschränkte, seinem persönlichen Verhältnis zu Nancy selbst geschuldet. All seine schönen, klugen, lehrreichen Gedanken über das Herz und die Hand, den Kuss, der, mit Ausnahme von Novalis, philosophisch bislang ernsthaft kaum befragt wurde, endlich über die Hemmung und die Scham protokollieren keineswegs inkognito die Geschichte der Freundschaft zweier Männer, die, einander zugetan, zugleich den Abstand wahrten. Denn zu einem Berühren, das kein Be- und Angreifen sein soll, keine Inbesitznahme, gehört der Takt, das Gespür für Respekt und die angemessene Balance zwischen Nähe und Ferne; endlich das oft so unendlich schwere Vermögen, den Anderen zu berühren, ohne ihn festzuhalten, ohne ihn zu klammern, zu binden. Die Berührung - und hier berühren sich Derrida und Nancy vielleicht am offensichtlichsten - charakterisiert eine Beziehung, die los- und die freilässt, die, anders gesagt, die Freiheit des Anderen nicht nur nicht einschränkt, sondern überhaupt erst initiiert.

Was aber für Nancy nicht nur das Wesen der Freundschaft ausmacht, sondern vor allem auch die christliche Liebe. Wie nämlich Derrida als Philosoph nicht ohne sein vielfach gebrochenes messianisch-rabbinisches Erbe zu verstehen ist, steht Nancy in steter Auseinandersetzung mit einem Christentum, dessen "Dekonstruktion" ihm ein wesentliches Anliegen ist. Die Fleischwerdung eines Gottes, der zugleich sterblich wurde, eines Gottes ohne Göttlichkeit, inspiriert, ja trägt Nancys gesamte Lektüre der Berührung, die den Entzug des Berührten nicht nur billigt, sondern will und bejaht. Exemplarisch wird ihm dies in einer wirkungsgeschichtlich so folgenreichen wie umstrittenen Episode aus dem Johannes-Evangelium, in der Maria Magdalena auf den auferstandenen Jesus trifft, der die zu ihm Eilende mit den Worten "Noli me tangere!" - "Berühre mich nicht!" - von sich fernhält. Das griechische "Mè mou haptou" indes wäre gemäßer mit "Halte mich nicht fest!" zu übersetzen, womit sich der Sinn der gesamten Szene grundlegend ändert. Denn Jesus annonciert sogleich sein Fortgehen, sprich sein Verschwinden. Er gehe zu seinem Vater. Wovon er nicht ab-, weshalb er nicht festgehalten werden wolle. Was aber soll das anderes heißen, als dass Jesus als Toter aufersteht? Dass er den Tod in das Leben zurückholt? Dass er exemplarisch mit dem elenden, endlosen Nachleben der Toten im Reich der Schatten bricht?

Vielleicht bedeutet, einen anderen Menschen zu lieben, genau diese Zumutung: ihn als Sterblichen zu lieben, weil seine Sterblichkeit seine Menschlichkeit ausmacht. Nancy übersetzt das "Noli me tangere" jedenfalls so: "Liebe, was dir entkommt, liebe den, der fortgeht. Liebe, dass er fortgeht." Die Bilder zum Rencontre zwischen Jesus und Maria Magdalena aber, die er dabei minuziös ausdeutet, thematisieren das "Noli me tangere" nicht nur, sie setzen es voraus. Wie kaum ein anderer Philosoph, mit Ausnahme allenfalls von Derrida selbst, von Maurice Merleau-Ponty oder Gilles Deleuze, übereignet Nancy sein Denken den Bildern, denkt er mit ihnen und durch sie. Doch auch und vor allem sie gebieten Abstand. "Es gehört wesentlich zur Malerei, dass sie nicht berührt wird. Dem Bild im Allgemeinen ist es wesentlich, dass es nicht berührt wird." Nur dem, der das Gebot achtet, werden sie von Zeit zu Zeit ein Versprechen erfüllen, das ihnen als Spiegelbild eingeschrieben zu sein scheint: "Berühre mich nicht, denn ich berühre dich."


Titelbild

Jacques Derrida: Berühren. Jean-Luc Nancy.
Übersetzt aus dem Französischen von Hans D. Gondek.
Brinkmann & Bose Verlag, Berlin 2007.
416 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783922660750

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Titelbild

Jean-Luc Nancy: Noli me tangere. Aufhebung und Aussegnung des Körpers.
Diaphanes Verlag, Berlin 2008.
120 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783037340462

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