In der Kinohöhle

Die Psychotherapeuten Jann E. Schlimme, Bert. T. te Wildt und Hinderk M. Emrich lassen sich ohne Scham vom Kino berühren

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Den Kinosaal zur "platonische[n] Höhle" zu erklären, ist etwas gewagt. Weder kennen die KinogängerInnen nur die Schatten an der Wand, noch halten sie diese für die einzige Wirklichkeit. Auch läuft niemand Gefahr, getötet zu werden, wenn er den Zuschauenden erklärte, was sie auf der Leinwand sehen, sei nur ein Abklatsch der Wirklichkeit, die wahre Welt aber draußen vor der Tür zu finden. Jann E. Schlimme, Bert. T. te Wildt und Hinderk M. Emrich scheuen das Wagnis dennoch nicht. Die genannten Einwände ausräumen können sie allerdings nicht, versuchen es auch erst gar nicht. Was mag sie zu der Analogie verleitet haben? Vielleicht war einfach die Versuchung zu groß, ihren Band über "Scham und Berührung im Film" mit dem Hinweis auf einen Heroen der europäischen Geistesgeschichte beginnen zu können. Wie denn auch einer der drei, Emrich, überhaupt gerne philosophiegeschichtliches namedropping betreibt.

Zunächst aber weisen die drei in der Klinischen Psychiatrie und Psychotherapie tätigen Autoren im Vorwort gemeinsam darauf hin, dass die Texte des Buches "zu einem kleineren Teil" aus einer Vorlesungsreihe bei den Lindauer Psychotherapiewochen 2006 und 2007 hervorgingen. Zwar handele es sich bei den Beiträgen jeweils um "eigenständige Versuch[e]", die separat gelesen werden könnten; ein verbindendes Element gebe es aber sehr wohl: Sie alle wollten "eine besondere psychologische oder anthropologische Facette der Thematik 'Scham und Berührung' [...] demonstrieren".

Ist das gesagt, darf Emrich auch schon loslegen. Wie die meisten der sechzehn Texte kommt auch sein Essay über "Fiktionalität und Berührung im Kino" am Beispiel des Filmes "Matrix" kaum über einen Umfang von fünf Seiten hinaus. Doch die sind ihm genug, um Hegels dreistufiges Dialektik-Modell um eine vierte zu erweitern und einen kurzen Dialog aus dem Film zu zitieren, der die ersten beiden Stufen illustrieren soll. Beides vollbringt der Autor sogar auf gerade mal drei Seiten. Wohl um die anderen beiden auch noch zu füllen, erwähnt er schnell René Descartes (1596-1650), seit dessen Wirken "rund 250 Jahre" vergangen seien, stellt dem "kantischen 'Ding an sich'" die "Welt der Erscheinungen" gegenüber, die er mit der "Illusionsmaschine" Kino engführt, und parallelisiert die "Philosophie des Als-ob" des Neukantianers Hans Vaihinger und Ervin Goffmans "Frame analyses", obwohl das alles nicht sehr viel mit seinem erweiterten Dialektik-Modell zu tun hat.

Andere Beiträge kommen weniger gespreizt daher. Etwa die von Bert. T. te Wildt, der unter anderem David Lynchs "Blue Velvet" angeschaut hat und in dem "Meisterwerk angewandter Psychoanalyse" wenig überraschend die Initiation eines jungen Voyeurs zum Mann entdeckt. Die Anekdote, dass Lynch seinen Psychoanalytiker während der ersten Therapiesitzung gefragt habe, ob die Analyse seiner Kreativität schaden könnte, und sie auf dessen Bejahung hin sofort abbrach, erinnert allerdings allzu sehr an Rainer Maria Rilke.

Der dritte im Bunde, Jann E. Schlimme, widmet sich etwa "Star Wars IV" und denkt Luke Skywalker mit der Titelfigur von Wolfram von Eschenbachs "Parzival" zusammen. "Erst die Scham eröffnet überhaupt die Möglichkeit aller weiteren (höfichen) Erziehung", laute beider Botschaft.


Titelbild

Jann E. Schlimme / Bert T. te. Wildt / Hinderk M. Emrich: Scham und Berührung im Film.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008.
141 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-13: 9783525404041

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