Der Bücherfresser – Friedhelm Rathjen über Arno Schmidt als Wiederverwerter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Arno Schmidt las Bücher nicht einfach, sondern er fraß sie. Gemeint ist damit, dass für Schmidt das Lesen nicht erbauliche Zerstreuung und Zeitvertreib war, wie für das Gros der Literaturleser, sondern eben so etwas wie die Aufnahme neuer Nahrung. Schmidt las Bücher, um sich selbst zu stärken, um etwas, was dem eigenen Organismus zugute kommen konnte, herauszuholen: Kenntnisse, Erfahrungen, Formulierungen. Und das, was Schmidt sich aus gelesenen Fremdtexten herausholte, wurde anschließend in aller Regel Schmidts eigenem Werk einverleibt: es wurde mehr oder weniger kräftig verdaut, einem Stoffwechsel unterworfen und auf diese Weise einer höchst produktiven Wiederverwertung unterzogen.

Wenn von Arno Schmidt als Bücherfresser die Rede ist, so geht es um ein Phänomen der Intertextualität. Traditionell wird Intertextualität vor allem unter dem Aspekt des Einflusses betrachtet, doch dieser Ansatz griffe im Fall des Bücherfressers Schmidt viel zu kurz. Gewiss ist die ausgiebige Lektüre unterschiedlichster Bücher auf Schmidt und sein eigenes Werk nicht ohne Wirkung geblieben, doch von den wenigsten Büchern, die Schmidt las, lässt sich im engeren Sinne sagen, sie hätten ihn beeinflusst. Ansonsten müssten wir auch sagen, unser Bäcker oder das Brot, das wir täglich bei ihm kaufen, beeinflusse uns – eine Sichtweise, die nicht völlig falsch ist, aber vom wesentlichen Punkt ablenkt.

Indem wir uns das Brot einverleiben, machen wir mehr mit dem Brot, als das einzelne Brot mit uns macht. Ganz in diesem Sinne ist bei Schmidts Bücherfresserei nicht vorrangig von Belang, was ein einzelnes Buch mit dem Leser Schmidt macht, sondern was Schmidt als wiederverwertender Selberschreiber aus diesem Buch macht. Oft pickt er sich nur sehr vereinzelte Rosinen heraus und verschmäht den Rest. Es geht also nicht um pauschale Wirkung, sondern um selektive Rezeption.

In „Der Bücherfresser“ werden bestimmte Teilbereiche des von Arno Schmidt rezipierten Bücherkosmos inventarisiert. Der Zugriff ist primär ein katalogischer. Ziel ist es, die jeweiligen Teilbereiche systematisch zu durchforsten und zu schauen, was Schmidt alles gefressen und was er verdaut hat – und was er wo einer Wiederverwertung unterzog. Auf dem Speiseplan stehen gut zweihundert Bücher, manche davon gleich mehrfach. Aufgetischt werden: als Hors d‘œuvre neun verbummelte Bücher, als zweiteiliges Hauptgericht 94 Rowohlt-Titel, als Sorbét fünfzig nicht übersetzte Bücher, als Käseplatte 34 Joyce-Bände, und als Dessert vierzig zettelverträumte Modernisten.

Anmerkung der Redaktion: literaturkritik.de rezensiert grundsätzlich nicht die Bücher von regelmäßigen Mitarbeiter / innen der Zeitschrift sowie Angehörigen der Universität Marburg. Deren Publikationen können hier jedoch gesondert vorgestellt werden.

 

Titelbild

Friedhelm Rathjen: Der Bücherfresser. Arno Schmidt als Wiederverwerter.
Edition ReJOYCE, Scheeßel 2009.
167 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783000272776

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