"Ferkeleien", "Gruselsex" und "wild wuchernder Genitalismus"? - Patricia Vahsens Dissertation über Edgar Hilsenrath ist das ideale Begleitbuch zur abgeschlossenen Werkausgabe des Autors

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kann man literarische Bücher über die Shoah verfassen und dabei die sexuellen Nöte der Opfer thematisieren? Edgar Hilsenrath hat es in seinen Romanen, Satiren und Erzählungen immer wieder getan, und er kombinierte diesen Tabubruch auch noch mit einem zweiten. Nämlich dem, mit 'schwarzem Humor' über den Holocaust zu schreiben.

Patricia Vahsens Dissertation über die Rezeption des Werks von Edgar Hilsenrath, die in der von Hans-Otto Horch herausgegebenen Reihe "Conditio Judaica" erschienen ist, gibt einen besonders materialreichen Überblick über die empörten, verständnislosen, aber auch die - eher späten - positiven Reaktionen, die Hilsenraths Texte im deutschen Feuilleton provozierten. Am Ende ihrer Arbeit präsentiert die Autorin unter anderem auch ein eigens geführtes Interview mit Hilsenrath selbst, der sich seiner Rolle in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur sehr bewusst zu sein scheint: "Ich bin eine absolute Ausnahme, denn niemand hat gewagt, was ich gemacht habe. Shoah und schwarzer Humor, das war ein Tabu. Ich habe das durchbrochen. Ich glaube nicht, daß es andere Shoah-Romane gibt in der Art, wie ich das gemacht habe."

Die verdienstvolle Hilsenrath-Werkausgabe des Dittrich Verlags wurde im Jahr 2008 abgeschlossen, so dass die Werke dieses einzigartigen Autors jetzt erstmals vollständig ediert vorliegen. Zuletzt erschienen unter anderem noch Hilsenraths Satiren "Zibulsky oder Antenne im Bauch", aus denen der Autor bei seinen Lesungen nach wie vor immer besonders gerne vorliest, und ein mit "Erzählungen" überschriebener Band mit dem Titel "Sie trommelten mit den Fäusten im Takt", der aber auch Literaturkritisches enthält. Nicht zuletzt sind die bisher von der Kritik im Werk Hilsenraths als Romane von eher untergoeordnetem Rang abgestempelten Werke "Moskauer Orgasmus" und "Die Abenteuer des Ruben Jablonski" in der Dittrich-Ausgabe wieder greifbar.

Vahsens Dissertation ist als 'Begleitbuch' zur Dittrich-Ausgabe besonders empfehlenswert, und nicht nur für Literaturwissenschaftler. Denn ihre zeitgeschichtlichen und literarturhistorischen Erläuterungen zur äußerst wechselhaften und bis heute umstrittenen Rezeption Hilsenraths in Deutschland sind durch eine beeindruckende bibliografische Recherche gestützt, die die wichtigsten literaturkritischen Thematisierungen seiner Romane in deutschen Zeitungen seit den 1960er-Jahren beinahe umfassend berücksichtigt hat.

Den in den Rezensionen zu Hilsenraths Romanen immer wieder laut werden Vorwurf der "Pornografie" und die sich darum rankenden feuilletonistischen Debatten erläutert Vahsen in dem Kapitel "Shoah und Sexualität". So sprach Martin Hielscher in der "Zeit" einmal von "typisch Hilsenrathe[n] Ferkeleien", Christa Rotzoll mokierte sich in der FAZ über Hilsenraths "Gruselsex" und Heinrich Böll witterte in seiner "Zeit"-Besprechung von Hilsenraths "Der Nazi & der Friseur" nichts weniger als "wild wuchernden Genitalismus". Böll war es aber auch, der in dem selben Text dem Vorwurf, Hilsenrath fröne einer obszönen Form der Pornografie vor dem Hintergrund der Shoah, widersprach.

Auf der anderen Seite gehörte auch Ruth Klüger, selbst Holocaust-Überlebende wie Hilsenrath, zu den Kritikerinnen dieser Prosa. Sie fand etwa viele der "Zoten und Sentimentalitäten" in Hilsenraths Roman "Jossel Wassermanns Heimkehr" eher schlecht "verdaulich". Andere Kritiker wiederum lasen die auffallend beschriebene Sexualität in Büchern wie dem autobiografischen Roman "Die Abenteuer des Ruben Jablonski" als "triumphale Antwort auf den gewaltsamen Tod" (Herbert Glossner) oder auch als eine "Selbstvergewisserung nach einem irreparabel beschädigten Leben" (Markus Schwering).

Vahsens Dokumentation zeigt eindrucksvoll, dass man Hilsenrath besonders in seiner deutschen, vom nachkriegstypischen Philosemitismus geprägten Rezeption Unrecht tat. Man konnte und wollte sich mit den Karikaturen jüdischer Figuren, die Hilsenraths Romane bevölkern, nicht auseinandersetzen. Viele Verleger wollten sie deshalb auch lieber gar nicht erst drucken, weil sie sie mit den eigenen Stereotypen 'des Juden' verwechselten, die sie selbst wohl insgeheim hofften, endgültig überwunden zu haben. Dennoch meinte man, Texte vor sich zu haben, die den deutschen Antisemitismus neu schüren könnten, weil darin ein Judenbild vermittelt werde, dass Vorurteile bestätige, vor deren Einfluss man offensichtlich doch auch bei sich selbst immer noch große Angst hatte. Dabei wurde übersehen, dass Hilsenrath genau diesen verlogenen Philosemitismus, der die alten Ressentiments nur hinter einer neuen Maske übertriebener Freundlichkeit und Fürsorge zu verbergen suchte, in seinem Roman "Der Nazi & der Friseur" verspottet.

Reaktionen wie die Klügers zeigen aber auch, dass es mit dieser Kritik der spezifisch deutschen Reaktionen auf Hilsenraths Prosa nicht getan ist. Hilsenraths Texte überschreiten tatsächlich immer wieder Grenzen, und zwar auf eine Weise, die gerade auch andere Holocaust-Überlebende als unerträglich empfinden konnten: Hinter dem Lachen, auf das diese Werke zielen, verbirgt sich ein unausdrückbarer Schmerz, und Hilsenrath hat nach einem Weg der Darstellung dieses Leids gesucht, der bislang, auch in seiner kontroversen Aufnahme, ohne Beispiel geblieben ist. Allein schon deshalb lohnt sich die Auseinandersetzung mit seinem Werk.

J.S.


Titelbild

Edgar Hilsenrath: Zibulsky oder Antenne im Bauch. Gesammelte Werke, Band 5.
Helmut Braun.
Dittrich Verlag, Köln 2006.
154 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 393771703X
ISBN-13: 9783937717036

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Edgar Hilsenrath: Die Abenteuer des Ruben Jablonski. Roman.
Dittrich Verlag, Berlin 2007.
308 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-13: 9783937717050

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Titelbild

Edgar Hilsenrath: Moskauer Orgasmus.
Dittrich Verlag, Berlin 2007.
311 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-13: 9783937717029

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Titelbild

Patricia Vahsen: Lesarten - Die Rezeption des Werks von Edgar Hilsenrath.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2008.
342 Seiten, 86,00 EUR.
ISBN-13: 9783484651715

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Edgar Hilsenrath: Sie trommelten mit den Fäusten den Takt. Gesammelte Werke Band 9.
Dittrich Verlag, Berlin 2008.
176 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-13: 9783937717067

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