Die Sehnsucht nach Erfahrungen

Über Clemens Bergers Erzählungen "Und hieb ihm das rechte Ohr ab"

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kann, wer nichts erlebt, erleben? Clemens Berger konfrontiert in seinen fünf Erzählungen seine Figuren mit einem außerordentlichen Geschehen, das sie sich zwar erhofft haben, dem sie aber kaum gewachsen scheinen.

Zweimal handelt es sich um Liebesgeschichten, die leidenschaftlich während einer Italienreise beginnen und lau enden. "Just because the sky?" ist dabei novellistisch zugespitzt und schließt damit, dass der Mann in der Heimat mit dem gewaltbereiten Freund seiner Geliebten konfrontiert wird. Er reagiert letztlich so fatal unentschlossen wie der Erzähler in "So warm im Kopf", der längsten und gleichzeitig schwächsten Erzählung des Bandes. Dort nämlich müssen römische Plätze für die Stimmung sorgen, die Berger literarisch zu evozieren verweigert, und beglaubigen die Philosophen, die die Liebenden nennen, den intellektuellen Anspruch, den sie nicht einzulösen vermögen.

Das ist in diesem Fall ärgerlich, weil es über mehr als vierzig Seiten ausgedehnt wird; es hat indessen seine Funktion. Alle diese Intellektuellen, zumindest die schwächlichen Männer, leben aus zweiter Hand. Sie sind Philosophen oder Künstler und vermögen zwar über die große Liebe zu reden und zu schreiben, aber nicht, sie einzulösen. Ihre Halbherzigkeiten sind keineswegs verwerflich - sie tun, was fast jeder täte, vielleicht sogar ein wenig mehr. Sie beschwören aber das große Glück, und an dem gemessen stellen sie sich als klein heraus.

Das Schema ist abgewandelt in den beiden Erzählungen, die den Band eröffnen und schließen. Hier treten tatsächlich zwei Menschen aus ihren Rollen heraus. Eine Künstlerin durchschaut das öde Geschäft des avantgardistischen Kunstbetriebs, versucht sich am Realismus der alten Meister zu schulen und schafft so ein Abbild der Geburt Jesu, mit dem sie ungewollt jenen Skandal erzeugt, zu dem all die modernen Installationen, Farbflächen und Endlosvideos schon lange nicht mehr in der Lage sind. Ein Philosoph, der sich mühsam jede erkennbare Opposition ausgetrieben hat und jeden seiner Aufsätze vor der Publikation von Lesben, Schwulen, Migranten und Juden auf möglicherweise Anstößiges hin untersuchen lässt, scheitert an einem erotischen Chat im Cyberspace, in dem er als übler Sexist erscheint.

Wenn die beiden Liebesgeschichten durch ihre lauen Protagonisten von einem etwas schleppenden Verlauf bedroht sind, so gewinnen diese zwei Erzählungen, die tatsächlich in existentielle Krisen führen, auch durch eine raffinierte Konstruktion an Reiz. In beiden Fällen sorgt die Perspektive, aus der erzählt wird, für Distanz. Die Entwicklung der Künstlerin wird von einem Mann geschildert, mit dem sie vielleicht einmal in einem näheren Verhältnis stand; umgekehrt der Fall des Philosophieprofessors von einer ebensolchen Frau. Was wirklich in die Verhältnisse eingreift, erfährt man nur aus der Entfernung - das ist Programm in diesen Erzählungen, die ein Ensemble von Geisteswissenschaftern und Künstlern aufbieten, die so etwas wie echtes Leben erfahren wollen, doch dabei ausnahmslos scheitern.

Charakteristisch ist das Medium der Mail, das in diesen vier Texten eine große Rolle spielt. Telefone werden zuweilen ausgestöpselt, um Ruhe zu haben oder weil der Anruf der Freundin bei einem kleinen Verrat stören könnte; SMS und Twitter ist etwas für die Jugend oder für die allzu Geschäftigen. Man kommuniziert spontan schreibend, dabei nicht nur geografisch auf Entfernung.

Einer mailt nicht - einer nimmt alles ganz ernst, bis kurz vor seinem Ende, oder sogar bis zu diesem Ende. Im Zentrum des wohlkomponierten Bandes steht die Titelerzählung, die auf den biblischen Verrat des Judas an Jesus anspielt. Der Dorfbewohner Alfred, "der die nie hatte leiden können, die gescheit daherredeten", hat in einem Passionsspiel die Rolle eben jenes Judas übernommen und will sie mit ganzem Ernst ausfüllen. Der Verrat als Bedingung der Menschheitserrettung geht ihn auch deshalb an, weil er gerade seine Ehefrau mit einer Jugendliebe betrügt - dabei wird ihm auch der Ehebruch, obgleich die Freundin kaum mehr etwas von ihm wissen will, zum existentiellen Tun. Der "Herrdoktor", der die Proben leitet, will eine "natürliche" Darstellungsweise, was bedeutet, dass das Volk sich auf der Bühne benimmt, wie er sich das Volk vorstellt. Nicht im Plan vorgesehen ist, dass einer aus dem Volk sich über das Niveau der sonst von dieser Truppe aufgeführten Bauernschwänke erheben möchte.

Alfred wird verlacht und spielt überzeugend - bis zu einem allzu überzeugenden Ende. Das ist im Detail eindrucksvoll vorgeführt; auch wenn die Verratsmetaphorik offensichtlich Unvergleichliches parallelisiert. Der Dorfsee gewinnt mehr an sinnlicher Präsenz als jede Ecke Roms, und der einfache Mann erleidet die Passion, die Berger seinen Berufskünstlern verweigert und die allenfalls dem geilen Philosophen der Schlusserzählung bevorstehen mag. Soll man aber glauben, dass aus dem Volk zwar nicht das Heil, aber doch das unverstellte Empfinden zu kommen vermag? Bergers Antwort ist ambivalent, insofern Alfred von seinen Freunden verlacht wird, aber das Verlachen doch aufrichtiger ist als die in Intellektuellenkreisen gepflegte wohlwollende Toleranz; und insofern die Dörfler, die gegen das realistische Bild in der Eingangserzählung aufbegehren, doch immerhin noch auf Kunst reagieren. Wahrscheinlich aber handelt es sich dennoch um einen Exotismus der unteren Schichten und verdrängt tatsächlich die Freude an jeglichem Kunstgewerbe bald schon auf dem Dorf einen wenn auch konservativ-verqueren Protest gegen die Moderne.

Das könnte heißen, dass die Welt noch radikaler gegen Unvorhergesehenes abgedichtet ist als Berger annimmt. Doch behandeln seine Erzählungen, wie der immer liberaler werdende Philosophieprofessor im Schlusstext, nicht die politisch-ökonomischen Konflikte, die in der Realität existentiell ausgefochten werden. Die kleinen, krummen Intellektuellengeschichten, in denen der Sex, soweit es überhaupt dazu kommt, nur noch bedingt Freude bereitet, zeigen nur zu gut das Bewusstsein einer etablierten Schicht, die sich das Drama inszeniert, weil sie den Bezug zu den alltäglichen Dramen längst verloren hat. Die Theoretisierung der sozialen Konflikte, die das Geschehen in Modebegriffe auflöst, hat nichts mehr mit der gewerkschaftlich engagierten Kassiererin zu tun, die mittels des Vorwurfs, mit einem Leergutbon im Wert von einigen Cent betrogen zu haben, in die Arbeitslosigkeit gezwungen wird.

Es ist heute nicht so, dass es keine Kämpfe ums Überleben gäbe; es geht hier auch nicht darum, von Berger eine Literatur der Arbeitswelt einzufordern. Die Stärke seiner Erzählungen besteht vielmehr gerade darin, dass sie eine bestimmte Schicht porträtieren, die nach Erfahrungen lechzt und in einem System gefangen ist, das jeder Erfahrung entgegenwirkt. Den Zustand der Lähmung zu literarisieren kann zu lähmender Verdoppelung führen oder zu kluger Überschreitung. Unter Bergers Erzählungen finden sich Beispiele für die erste und auch für die zweite Variante. Doch immerhin stellt er Fragen, wie sie sich heute noch selten finden.


Titelbild

Clemens Berger: Und hieb ihm das rechte Ohr ab. Erzählungen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2009.
180 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783835304734

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