Kleinstadt - Musenstadt - Ilm-Athen

Norbert Oellers' und Robert Steegers' Buch über Weimar und Weimarer zur Zeit Goethes in neuer Auflage

Von Gerhard MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerhard Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Literaturgeschichte ist dieses materialreiche und anregende Buch nicht, auch keine Goethe-Biografie, keine historische Arbeit, und keine Geschichte Weimars. Eher stellt es so etwas wie eine erweiterte Chronik der Jahre 1775 bis 1832 dar, auf Johann Wolfgang Goethes Leben in Weimar zentriert. Die "Vorbemerkung" formuliert es so: "Das Buch ist [...] im wesentlichen ein Goethe-Buch; denn er war nun einmal über ein halbes Jahrhundert die Zentralsonne der Residenzstadt [...]." Und das Ziel dieser Veröffentlichung? Die Autoren haben "eine Brücke schlagen wollen, um Goethe und seinem 'Umfeld' ein wenig näher zu kommen. [...] Die Verfasser hoffen, daß die Leser angeregt werden, das Ferne nah zu sehen und das Eigene im Fremden wiederzuerkennen; und daß sie die Neigung verspüren, sich, den skizzierten Spuren folgend, genauer zu informieren nach eigenem Gutdünken [...]."

Sagen wir es gleich: Gemessen an diesem Anspruch ist dieses Vorhaben vollauf gelungen. Das vorliegende Buch ist eine ausgezeichnete Darstellung, die allen Klassik-Interessierten, zudem allen Schülern sowie Studierenden sehr zu empfehlen ist. Der zeitliche Abstand zum klassischen Weimar ist beträchtlich, viele literarische Werke sind heute gerade den Jüngeren spontan wohl kaum zugänglich, die Sprache hat sich beträchtlich verändert - so ist eine Publikation wie diese äußerst willkommen.

Zu bemängeln gibt es wenig, höchstens dass es passagenweise etwas rhapsodisch zugeht und dass, im Hinblick auf den angesprochenen Leserkreis, eine - eventuell gegliederte und kommentierte - Bibliografie nützlich wäre. Gewiss sind die Anmerkungen informativ und an sich ausreichend, der Index hilfreich, und die Abbildungen sind markant und klug ausgewählt. Das vorliegende Buch ist die zweite und - wie es heißt - verbesserte Auflage; die erste Auflage erschien 1999 unter dem Titel "Treffpunkt Weimar.

Das Buch ist chronologisch und klar gegliedert. Es schildert zunächst in knappen Zügen "Die Vor- und Frühzeit der Musenstadt. Die Jahrhunderte vor 1775". Ausgehend von Karl Gräbners historischem Handbuch "Die Großherzogliche Haupt- und Residenz-Stadt Weimar ..." (1830) und anderen Geschichtswerken wird die Herrschaft des Herzogs Ernst August und besonders der Herzoginmutter Anna Amalia skizziert, desgleichen die Bedeutung des Schriftstellers Christoph Martin Wieland.

Das nächste Kapitel befasst sich mit dem klassischen Freigestirn: "Wieland, Goethe, Herder: Auf dem Weg zum Ilm-Athen - 1775-1786". Am 7. November 1775 traf Goethe in Weimar ein; der junge Herzog Karl August hatte die Regentschaft angetreten. Beleuchtet werden vor allem Goethes erste Eindrücke und seine Lebensumstände, das "muntere Treiben bei Hofe", Goethes Verpflichtungen, seine Beziehungen zu Frau von Stein sowie zu Johann Gottfried Herder, seine naturwissenschaftlichen Studien zu dieser Zeit und seine Haltung zur Freimaurerbewegung. Immer wieder - und dies gilt auch für die späteren Kapitel - werden Aussagen anderer Personen, Gäste Weimars beziehungsweise Besucher Goethes einbezogen, hier etwa Musäus; Goethes literarisch-poetische Werke (wie etwa "Urfaust" und "Ur-Meister") werden quasi nebenbei erwähnt, weder erläutert noch interpretiert.

Unter dem Titel "Risse im Musenhof. Das Licht Italiens, die Schatten Frankreichs" schildert ein weiteres Kapitel die Jahre 1786 bis 1794. Goethes italienische Jahre werden ausgespart. Die Autoren legen Wert auf die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse der Zeit. Im geheimem reiste Goethe nach Süden, nach knapp zwei Jahren kam er 1788 zurück. In der Zwischenzeit war Friedrich Schiller nach Weimar gekommen, suchte den Kontakt mit Herder und Christoph Martin Wieland, zu Goethe, der noch in Italien weilte, bestand kein Kontakt. Goethes Begegnung mit Karl Philipp Moritz, seine Bekanntschaft mit Johann Heinrich Meyer und das Treffen mit Schiller in Rudolstadt werden ebenso geschildert wie die Beziehung mit Christiane Vulpius, aus der für beide Schwierigkeiten und Misshelligkeiten erwuchsen. Auf die Folgen der Französischen Revolution und Goethes "Weg ins Kriegsgebiet" 1792 gehen die Autoren ausdrücklich ein.

Der 20. Juli 1794 - Goethe und Schiller trafen sich bei der Naturforschenden Gesellschaft in Jena - wird von Literaturhistorikern gern als "Geburtsstunde der deutschen Klassik" eingestuft. "So falsch", meinen die Autoren, "ist diese Ansicht nicht, wenn die Voraussetzung gilt: Mit Weimarer Klassik, im engeren Sinne, ist (in erster Linie) die Zeit gemeint, in der die Fülle der poetischen Werke Goethes und Schillers entstand, die es ohne das freundschaftliche Zusammenwirken der beiden Dichter nicht hätte geben können." Der Band widmet sich in diesem Teil ausführlich den sich intensivierenden Kontakten zwischen den beiden Klassikern.

Die Autoren heben danach Aspekte hervor, die bislang in literaturgeschichtlichen Darstellungen ausgespart blieben: "Die napoleonische Zeit: Zwischen Plünderung und Salonkultur. 1805-1815". Ab 1806 wird Goethe wieder literarisch produktiv. Die Einflüsse der Romantik werden ebenso dargestellt wie das Wirken Johanna Schopenhauers. Im Oktober 1806, nach der Schlacht von Jena und Auerstedt, wurde Weimar von französischen Truppen besetzt und geplündert; viele Familien verloren ihre gesamte Habe. "Was sich am Abend nach der Schlacht in Goethes Wohnhaus am Frauenplan zugetragen hat, läßt sich mehr genau rekonstruieren. [...] Jedenfalls müssen im Laufe der Nacht die beiden Soldaten in Goethes Zimmer eingedrungen sein und ihn bedroht haben [...]. Christiane Vulpius habe sich, so die Gerüchte in Weimar, beherzt dazwischen geworfen und ihren Lebensgefährten gerettet [...]." Dies war der Anlass, dass Goethe unmittelbar danach die Trauung veranlasste - was ihm und besonders Christiane (als Goethes "dicke Hälfte" verspottet) in Weimarer Gesellschaftskreisen Argwohn und Verachtung eintrug. Nach einigen Tagen rückten die französischen Truppen ab, "doch blieben die Einwohner der Stadt noch für eine Weile mit den grausamen Folgen des Krieges konfrontiert.

Das letzte Kapitel wirft ein Licht auf die Konzeption des Buches und besitzt auch einen aktuellen Akzent: "Das Weimar des alten Goethe: Vom Musenhof zum Museum. 1815-1832". Goethe, mittlerweile im Rang eines Staatsministers, übte seine dienstlichen Verpflichtungen bis kurz vor seinem Tod aus, traf Vorbereitungen für die Werkausgabe letzter Hand, hatte 1816 den Tod seiner Frau und 1830 seines Sohnes August zu beklagen, Johann Peter Eckermann trat 1823 in Goethes Mitarbeiterkreis. Immer wieder kamen Besucher und Verehrer auf ihn zu, ob Franz Grillparzer, Wilhelm Hauff oder der junge Felix Mendelssohn-Bartholdy: "An Goethe führte kein Weg durch Weimar vorbei. [...] kaum ein Reisebericht kam ohne die Schilderung eines Besuches bei Goethe aus. Ob aus Verehrung, ob aus Neugier [...]. Noch heute zehrt Weimar von diesem jetzt nur noch durch 'Klassikerstätten' und Reliquien zu befriedigenden Wunsch, der mittlerweile gewiß geschickter vermarktet wird als zu Goethes Zeiten." Pointiert - und vielleicht etwas zu effektvoll - sind die beiden Sätze, mit denen diese Darstellung schließt: "Mit Goethes Tod war Weimar klassische Epoche und seine Glanzzeit als literarisches Zentrum endgültig und unwiederbringlich vorbei. 'Weimar', schreibt Karl von Stein an Goethes Begräbnistag an seinen Bruder Fritz, 'wird nun wieder in sein altes Nichts zurücksinken, woraus es genommen ist, da sein Geist zu Gott stieg.'"


Titelbild

Norbert Oellers / Robert Steegers: Weimar. Literatur und Leben zur Zeit Goethes.
Reclam Verlag, Stuttgart 2009.
359 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-13: 9783150201824

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