Das große Leid am Bodensee

Martin Walser klagt wieder einmal über Kritik und Zeitgeist

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Martin Walser ist ein Rätsel. Als er 1998 seine Friedenspreisrede, wie er behauptete, „vor Kühnheit zitternd“ vortrug, konnte man noch an eine rhetorische Floskel glauben. Schließlich bestand zum Zittern kein Anlass, traf der Festredner schon damals die nationalbewusste Stimmung seines beifallswütigen Publikums und erwiesen sich doch die Kritiker in der folgenden Debatte als Minderheit. Ein gutes Jahrzehnt und zahlreiche, von der Literaturkritik meist ausführlich gewürdigte Romane später treibt den Großautor, der hinsichtlich seiner Medienpräsenz unter den Schriftstellern allenfalls von Günter Grass übertroffen wird, immer noch das Problem einer angeblich übermächtigen Meinungsmacht um. Der Intellektuelle, der seit Jahrzehnten seine Ansichten im Fernsehen, im Radio und in den Feuilletons aller überregionaler Zeitungen erfolgreich propagiert, beschwert sich über die Dominanz der Intellektuellen, die angeblich einen wie ihn unterdrücken.

Das wäre Stoff für eine Komödie, doch seltsamerweise lacht niemand. Ergänzt durch Tagebuchstellen aus den Jahren 1957 bis 2004 sind nun zwei Reden erschienen, in denen abermals Walser klagt. Das Rätsel verdoppelt sich: die Gesellschaft, die den Nöten des Schriftstellers zuhört – man darf vermuten, dass am 13. Februar 2008 in der Berliner Humboldt-Universität wie auch am 2. Juli 2008 in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste statt fröhlichen Gekichers andachtsvolles Lauschen herrschte –, die das Gehörte drucken lässt und mit gleichem Ernst liest.

Dies zweite Rätsel ist das einfachere. Walser fordert anstelle von Kritik „Zustimmung“, und diese Affirmation sieht er im Gegensatz zum rasch wechselnden „Zeitgeist“, der sich ungeachtet seiner Veränderlichkeit doch stets kritisch gebe. Es handelt sich dabei um ein Identifikationsangebot für Konservative im Stadium ihres Verfalls: Sie mögen nicht mehr nur langweilig konservativ sein, sondern wollen, wie einst die Linke, irgendwie auch ein Tabu brechen. Da aber die Zustimmung zum Bestehenden schon lange das Übliche ist, müssen sie einen angeblich übermächtigen Gegner erfinden. Da kommen Walsers Klagen, wie sehr ihn „Meinungen“ und „Zeitgeist“ seit unvorstellbar langer Zeit bekämpft hätten, gerade recht. Das mag so grotesk sein wie nur möglich – wie in einer Tagebuchnotiz Walsers von 2004, in der die Frankfurter Schule als so beherrschend dargestellt wird, wie sie es in ihren erfolgreichsten Zeiten nicht war.

Paradox genug: Walser schreibt gegen kritisches Denken an und findet Resonanz bei den Feinden jeder Kritik, die jedoch so plump nicht sein mögen und sich deshalb von Walser als Kritiker an einem imaginierten Zeitgeist in Szene setzen lassen. Der Konservativismus früher war primitiv, ehrlich und brutal – der von heute ist gewissenhaft reflektiert, stellt sich heuchlerisch als verfolgt dar und ist brutal. Mit viel gutem Willen mag man das als Fortschritt werten.

Ein Fortschritt ist jedenfalls, dass Walser nun immerhin zuweilen erkennt, wie sehr er auf der Seite der Gewinner steht. Nicht ohne Selbstgefälligkeit konstatiert er mehrfach, wie er sich früher vom Zeitgeist verfemt sah, nun aber seine Gedanken Allgemeingut geworden sind. Heimat? Galt früher als abgetan, was man heute gar nicht mehr verstehe. Und einen der, seiner Meinung nach, „wahrnehmungsfähigsten Intellektuellen“, Peter Sloterdijk, zitiert er ausführlich mit einer Passage, die darin gipfelt, dass er, Walser nämlich, in der Paulskirchenrede „zu früh recht hatte“.

Solches Selbstlob ist in seiner Naivität fast schon wieder sympathisch. Beinahe erreicht Walser hier einen Punkt, von dem aus er seine Klagen über den Zeitgeist vergessen und sich, und uns, sagen könnte: In der Politik, im Kulturbetrieb, in den Medien wird gekämpft; nicht jedes Argument ist fair, und das gilt für alle Parteiungen; und wer gerade obenauf ist, hat es zwar gut, sollte sich aber nicht allzu sicher fühlen. Irgendwann kommen andere Argumente in Mode, seien sie besser oder nicht.

Eine solche Souveränität erlangt Walser jedoch nicht. Die Münchner Rede „Über Erfahrungen mit dem Zeitgeist“ lässt sein Dasein, ungeachtet des finalen Sloterdijk’schen Lobs, als Passion eines einzigartig Aufrechten erscheinen. Erst als affirmativ, dann als Kommunist, dann als Nationalkonservativer verunglimpft – man liest über knapp vierzig Seiten diese nicht endenwollende Reihe von Gemeinheiten, denen Walser ausgesetzt war und fragt sich, wie um alles in der Welt er doch im literarischen Geschäft bleiben konnte.

Anscheinend wollten manche Leute einen affirmativen, einen kommunistischen, einen nationalkonservativen Autor lesen oder es gefielen Literaturkritikern und Lesern einfach ein paar von Walsers Romanen, unabhängig von herrschenden oder randständigen Meinungen. Wenn der „Zeitgeist“ so war, wie Walser ihn darstellt, so zeigt er zugleich gegen seinen Willen, dass der Zeitgeist nicht gar so mächtig ist. Vieles aber betrifft politische Konflikte, die ohnehin unsanft ausgetragen werden. Hier hat Walser kräftig getreten, seine Gegner haben getreten, heute ist Walser mit seinen Meinungen obenauf; der normale Gang der Dinge also, mit einem für ihn unnormal günstigen Ausgang.

Die Tagebucheinträge, die den Anhang des vorliegenden Bandes bilden, zeigen indessen, warum Walser die Realität nicht wahrzunehmen vermag. Sie dokumentieren Verletzungen, die Reaktion auf vernichtende Kritiken wie auch auf die kleinen, aber umso wirksameren Gemeinheiten des Kulturbetriebs. Selbst bei einem Erfolgsautor führt dies zu einer Verhärtung – eine kluge, vielschichtige Wahrnehmung von Prozessen der Machtausübung schlägt ab etwa 1975 in Wehleidigkeit um. Notierte Walser zuvor die sprachlichen Mechanismen der Erniedrigung, die medienspezifischen Automatismen des Unterdrückens, so dominiert nun die ideologische Klage, ungerecht behandelt zu werden: verkannt, missachtet, ungeliebt.

In der Berliner Rede „Kritik oder Zustimmung oder Geistesgegenwart“ verrät Walser mit einem kleinen Satz die psychische Grundlegung seines Problems: „Ich bin gewissermaßen selbstlos.“ Kritik ist in einer solchen Perspektive nicht allein ein manchmal nützlicher, manchmal lästiger Bestandteil des Betriebs, sondern eine existentielle Bedrohung. Entsprechend ist diese Rede, theoretisch viel avancierter als die gereihten Negativerfahrungen mit dem angeblichen Zeitgeist, der grundsätzlichen Kritik an der Kritik gewidmet.

Walser wünscht sich zunächst eine Kritik, die den individuellen Zugang deutlich macht. Es soll nicht mehr um gut oder schlecht, um richtig oder falsch gehen, sondern um Erfahrung und Erleben. Die Folgen freilich wären fatal: Das Feuilleton verkäme zur Selbsthilfegruppe, und der Streit, ohne den keine Entwicklung zum Besseren möglich ist, würde unmöglich.

Dass es Walser nicht um Wahrheit geht, sondern um Nestwärme, verrät eine Tagebuchnotiz von 1986, die er in dieses Büchlein aufgenommen hat: „Wenn etwas gesagt wird, was einem Tatbestand widerspricht, gibt es eben den Tatbestand und die ihm widersprechende Aussage. Beides ist gleich wahr. Die ahndende Einführung von so etwas wie Lüge dient nur einer bestimmten Herrschaftsausübung.“

Das ist nun offenkundiger Blödsinn; und würde, zum Beispiel, Walsers Verlag behaupten, von so etwas wie Honorar für den neuesten Roman sei doch nie die Rede gewesen, würde sogar Walser sehr schnell den Wert der Wahrheit wiederentdecken. Tatsächlich können sowohl Herrschende als auch Beherrschte das Konzept der Lüge für ihre Interessen verwenden. Zumeist dürfte es bestehende Machtverhältnisse stabilisieren, wenn über wahr oder falsch nicht gesprochen wird.

In einem zweiten Schritt geht Walser sogar noch weiter. Dabei geht er von der Erfahrung aus, dass er manchmal von Zustimmung, von Kritik aber nie gelernt habe. Dies mag stimmen, verfehlt allerdings die Aufgabe der Literaturkritik, die, ähnlich der politischen Diskussion, weniger auf den Autor zielt als das Publikum für oder wider ein Buch oder eine Meinung beeinflussen soll. Walser jedenfalls verallgemeinert seine Empfindung soweit, dass er sich nur noch Zustimmung wünscht. Das betrifft nicht nur die Literaturkritik, auf die er vor allem eingeht, sondern wird verallgemeinert: Die „zeitgeistopportunistischen Fernsehsprecher“ sollten sich „nicht mehr bis zur Lächerlichkeit in kritischen und höhnischen Grimassen verausgaben“, sondern „aufblühen im Gefühl der Zustimmung“.

Auf Literaturkritik bezogen, sieht Walser in seiner Idealwelt die Warnung vor dem Schlechten durchs Verschweigen gesichert: „Ein Buch, über das nicht geschrieben wird, hat keinem gefallen.“ Dabei bemerkt er nicht, dass er die brutalere Lösung vorschlägt: Über die negative Kritik lässt sich immerhin diskutieren, und manch potentieller Leser kann durch Negation merken, dass das getadelte Buch ihm dennoch gefallen könnte. Immerhin erfährt er von der Existenz des Buchs. Das Verschweigen aber ist die radikalere Vernichtung, gegen die nicht einmal ein Einspruch möglich ist. Überträgt man aber das Prinzip auf die Politik – was Walser mit einigen seiner Negativbeispiele nahelegt – so ergibt sich aus seiner Forderung nach Zustimmung eine totalitäre Propaganda, die alles, was er an schmerzhaften Erfahrungen zu berichten weiß, weit übertreffen dürfte.

Damit ist nicht gesagt, dass Walser genau dies wünscht. Machtausübung und die schmutzigen kleinen Tricks der Diskussion stoßen ihn ab. Gegen das Bestehende setzt er eine Moralität des Gefühls, von der er sich emotionale Sicherheit verspricht, die aber tatsächlich den Machthabern mehr Möglichkeiten zur Herrschaft verschafft als jeder flüchtige „Zeitgeist“ es könnte. Walsers neueste Reden sind im Ton konzilianter als seine Paulskirchen-Attacke auf kritische Intellektuelle. Nach wie vor geht es ihm aber darum, Gesellschaft durch eine Gefühlsgemeinschaft zu ersetzen, in der Miesmacher nichts zu Lachen haben.

 

Titelbild

Martin Walser: Kinderspielplatz - Zwei öffentliche Reden über Kritik, Zustimmung, Zeitgeist. Mit einem Anhang: Tagebuchstellen von 1957 bis 2004.
Berlin University Press, Berlin 2008.
120 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783940432452

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