Der Roman der Unbedeutenden

"Northline" von Willy Vlautin präsentiert unspektakuläre Protagonisten

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Northline" bezeichnet eine fiktive Linie, die aus dem Süden der Vereinigten Staaten in den Norden gezogen werden kann. Sie steht als Symbol für die Möglichkeit einer Flucht, die in Willy Vlautins Roman allerdings immer fiktiv bleiben wird. So könnte man meinen, es sei eine negative Utopie, die Vlautin entwirft. Aber der Bezug auf die Bewegung, die die Northline beschreibt, ist und bleibt nur eine Denkbewegung, die den Protagonisten seines Romans verschlossen bleibt. Die Abwesenheit von Intellektualität wäre aber eine zu negative Definition des Personals, dessen sich der Autor mit Aufmerksamkeit, Verständnis und letztendlich auch Zuneigung angenommen hat. Wenn alle etwas verbindet in diesem Roman, dann der Umstand, dass man sie als Loser bezeichnen würde.

Die Protagonistin des Romans stellt sich selbst vor: "Ich heiße Allison Johnson. Ich hatte früher einen alten Curt. Hat meiner Mom gehört. Unser Hund hat das Kabel durchgekaut, aber der damalige Freund von meiner Mom hat es repariert. Er war leuchtend orange. Es hat gejault, irgendwas hat nicht mit ihm gestimmt, aber er hat trotzdem gut funktioniert." Allison lebt mit ihrer chaotischen Mutter zusammen und hat einen gewalttätigen Freund, der sie schlecht behandelt. Gewalt und Erniedrigung bestimmt die Beziehung. Als Allison schwanger wird, trennt sie sich von ihrem Freund Jimmy und verlässt die Stadt. Sie ist zwar fähig, sich aus ihrer gewalttätigen Beziehung zu lösen, fühlt sich aber trotzdem immer von der angedrohten Rückkehr ihres Ex-Freundes bedrängt. Bei ihrem neuen Job als Kellnerin in einem Diner lernt sie Dan kennen und versucht mit ihm einen Neuanfang - trotz aller absehbaren Schwierigkeiten. Ihr Alptraum bleibt ihre Vergangenheit, ihre Sozialisation zwischen Gewalt, Erniedrigung und Unselbstständigkeit. Ihre neue Selbstständigkeit wird immer wieder gefährdet. Jimmy bedrängt sie: "Ich habe beschlossen, richtig in den Norden zu ziehen. Wollte ich schon immer. Einfach einen Strich ziehen und los. Eine gerade Linie nach Norden, eine Northline. Je weiter nach Norden, desto besser. Weg von allen. Weg von den ganzen Irren und Freaks und Mexikanern und Niggern. Von dem ganzen Zeug. Ich glaube, je weiter man nach Norden geht, desto besser wird es. Eine gesundere Gegend als normal. Einfacher. Vielleicht nehme ich mir eine Hütte mitten im Wald. In Alaska vielleicht. Jedenfalls raus aus Vegas. Ich möchte, dass Du mitkommst, und ich weiß, dass Du das tief in Deinem Innersten auch willst. Also gib mir Deine Nummer."

Vlautin schreibt die unspektakuläre Geschichte von Menschen, die im herkömmlichen Verständnis kein Anrecht auf einen Platz in der Geschichte haben. Sie sind der "Bodensatz der Gesellschaft" oder werden auch - rassistisch abwertend - als "White Trash" bezeichnet: die sozial benachteiligte, ungebildete, weiße Unterschicht. Vlautin macht die Menschen dieser "Schicht" zu Protagonisten seiner Romane. Er gibt ihnen eine Stimme, verleiht ihnen ein Gesicht und erzählt ihre Geschichten. Dabei entstehen in einem treffend und mit wenigen Andeutungen scharf gezeichneten sozialen Kontext Personen, die meist von deprimierenden Erlebnissen und Erfahrungen gezeichnet sind, aber trotzdem den Willen haben, gegen das "soziale Stigma" anzukämpfen. In "Northline" sind es Allison, Jimmy und Dan, die versuchen, irgendwie durch das Leben zu kommen. Die Bedrohung ihrer Existenz bleibt für Allison alltäglich gegenwärtig. Vlautins literarisches Können wird dort besonders deutlich, wo er trotz Aussichtslosigkeit der Situation, verzweifeltem Umfeld und deprimierenden Aussichten einer Protagonistin einen Weg ebnet und dabei nicht verschweigt, dass dies nicht die Lösung ist, sondern dass an dieser Stelle der Handlung die eigentliche Geschichte erst beginnt. Die Möglichkeit auf ein besseres Leben ist da, zwar nicht ohne Gefährdung, aber unter Anstrengungen möglich. Dabei bleibt beim Leser ein mitfühlendes Bedauern zurück, denn er weiß, dass es Allison nicht unbedingt schaffen wird. Auf jeden Fall wird es viele Rückschläge geben. Wie im richtigen Leben.

Vlautin, nicht nur Schriftsteller, sondern auch Musiker, hat zu seiner einfühlsamen und Anteil nehmenden Geschichte einen Soundtrack geschrieben, der dem Buch auf einer CD beigegeben wurde. Der Countryrock aus dem Süden der USA liefert eine gute Folie für die Lektüre des Buches. Die sensible Übersetzung von Robin Detje leistet einen wesentlichen Beitrag zur Authentizität des Buches. Eine Geschichte, die durchaus auf westeuropäische Verhältnisse zu übertragen ist - auch wenn man dies eher ignorieren möchte.


Titelbild

Willy Vlautin: Northline. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Robin Detje.
Berlin Verlag, Berlin 2008.
203 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783827008343

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