Das Tabu existierte nie

Die internationale Erforschung des Bombenkriegsthemas in der Literatur und den Medien agiert differenzierter und dekonstruiert Legenden

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Selbst wenn man annehmen wollte, dass einmal zutraf, was W.G. Sebald in seinen umstrittenen Zürcher Vorlesungen über „Luftkrieg und Literatur“ 1999 erklärte – heute hat es zumindest keine Gültigkeit mehr. Sebald behauptete, dass deutschsprachige Autoren der Nachkriegszeit die Zerstörung ihrer Städte durch alliierte Bomberverbände entweder verdrängt, vermieden oder aber in ihren literarischen Beschreibungen ‚verfehlt‘ hätten, und dass dieses Phänomen seinen Ursprung im tiefsten Innern der deutschen Gesellschaft gehabt habe. Sebald verglich das Symptom unter anderem mit der Beobachtung, dass Fotografien verkohlter Leichen, die nach Feuerstürmen wie denen in Hamburg oder Dresden einst nur klandestin von Hand zu Hand gingen, wie pornografische Bilder behandelt wurden.

Spätestens seit Jörg Friedrichs historiografischem Bestseller „Der Brand“ (2002), einer mit Gräuelbeschreibungen schockierenden Abhandlung über den Bombenkrieg gegen die Deutschen, die die Massaker an der nationalsozialistischen Zivilbevölkerung wortmächtig ins Zentrum der Erinnerung zu rücken versucht, scheint die deutsche Öffentlichkeit jedenfalls kaum noch Skrupel zu haben, das Thema zu berühren und sich damit selbst als Opfer des Zweiten Weltkriegs wahrzunehmen.

Ein Blick in neuere Publikationen zum Thema verrät allerdings auch, dass sich die internationale Diskussion rund um das, was Sebalds und Friedrichs Schriften provozierten, in den letzten Jahren stark ausdifferenziert hat. Auf der einen Seite werden kritische deutsche Historiker nicht müde, vollkommen zurecht die ‚Guido-Knoppisierung‘ der öffentlichen NS-Erinnerung zu beklagen – also einen medialen Diskurs, in dem die Thematisierung der Nazizeit endgültig zur bloßen Evokation wohliger Schicksalsschauer verkommen ist. Der ZDF-Vorzeige-Historiker Knopp hat es im letzten Jahrzehnt mit seinen unermüdlichen Sendungen auf eindrucksvolle Weise geschafft, die ehemals von der Tätergeneration noch weitgehend verschwiegene Erinnerung an die Verbrechen der NS-Zeit zu einem tumben geschichtspolitischen ‚Wunschkonzert‘ umzuarrangieren, präsentiert in raunend kommentierten Entertainment-Dokumentationen, die die deutsche Schuld in endlos erscheinenden Serien durch ihr haltloses Geschwätz und ihre perfiden Bilderarrangements verharmlosen.

Ewige Liebe in der Feuersbrunst

Zuletzt gipfelte diese Entwicklung in schwülstigen deutschen Spielfilm-Produktionen zum Thema Vertreibung und Bombenkrieg: „Zur besten Sendezeit zeigte das ZDF das Drama ‚Dresden‘ – die Geschichte einer deutschen Krankenschwester und eines britischen Piloten, die sich in der Feuersbrunst der brennenden Stadt ewige Liebe schworen. Der Bombenkrieg im Rosamunde Pilcher-Format, mit deutsch-britischem Happy-End und inszeniert als politisch korrekter Versöhnungsakt über den Dächern der Stadt“, spottet etwa Dietmar Süß in dem von ihm herausgegebenen Band „Deutschland im Luftkrieg. Geschichte und Erinnerung“, der Beiträge junger Historiker zum Thema versammelt. „Man hätte sich vor ein paar Jahren, schon bei der Debatte über das Buch von Jörg Friedrich […], kaum vorstellen können, welche Auswüchse die erinnerungskulturellen Konjunkturen des Luftkriegs erreichen können.“ Der Luftkrieg sei „in“, konstatiert Süß. Und das wohl nicht zuletzt deshalb, weil sich damit gezielt verschiedenste Leidenschaften entfesseln lassen und das Thema die Massen voller Begeisterung vor die Bildschirme ihrer Fernseher lockt.

Das Sujet verspricht die schnelle Vorlust der Schuldentlastung, da hier die uralte Stammtischmeinung bestätigt zu werden scheint, dass Deutsche sich auf immer und ewig als Völkermörder fühlen sollten, während noch niemand in der Welt von dem „Bombenholocaust“ der Alliierten an diesem ‚verführten‘ Volk geredet habe. Nun aber, freuen sich die Leute an ihrem Fernsehabend, werde endlich einmal Tacheles geredet, und zwar in angemessen opulenter Inszenierung.

Historische Fakten interessieren dabei schon lange nicht mehr, waren sie doch dieser ‚ganz eigenen‘ Wahrheit ohnehin schon immer im Wege: Auch dass eine Historiker-Kommission im Jahr 2008 endgültig feststellte, dass die Einschätzung, bei dem Bombardement von Dresden im Februar 1945 seien bis zu einer halben Million Menschen umgekommen, definitiv auf maximal 25.000 Opfer herabzustufen sei, ändert nichts an der bis heute äußerst aufgeregt geführten Diskussion über solche emblematischen Ereignisse im kollektiven Gedächtnis.

Auf der anderen Seite wird aber auch immer klarer herausgearbeitet, dass das von Sebald behauptete Tabu, das die Schriftsteller in der Nachkriegszeit davon abgehalten habe, sich des Themas frühzeitig anzunehmen, im Grunde überhaupt nicht existierte. So waren sowohl populäre Inszenierungen, wie sie Süß am Beispiel der „Dresden“-Schnulze anprangert, schon im melodramatischen Propaganda-Kino der Nazizeit gängig, als auch verschiedenste literarische Beschreibungen des Bombenkriegs nach 1945 vorliegen, die Sebald entweder noch gar nicht kannte, als er seine Vorlesungen hielt, oder die er von vorneherein mutwillig missverstand.

Wer etwa den von Manuel Köppen und Erhard Schütz herausgegebenen Band „Kunst der Propaganda. Der Film im Dritten Reich“ zur Hand nimmt, kommt aus dem Staunen über die Vielfalt nicht mehr heraus, in der das heikle Thema des Bombenkriegs gegen Deutschland bereits vor 1945 von der Propaganda als ‚ganz großes Kino‘ aufgefasst wurde – wenn auch in einer Trivialität und Plattheit, die heute zum Lachen reizt.

So erinnert Schütz in seinem Beitrag über „Flieger-Helden und Trümmer-Kultur. Luftwaffe und Bombenkrieg im nationalsozialistischen Spiel- und Dokumentarfilm“ sehr material- und kenntnisreich an eine Fülle entsprechender Produktionen, bis hin zu Rolf Hansens 1942 verfilmtem Schmachtfetzen „Die große Liebe“ mit Zarah Leander als Hanna Holberg und Viktor Staal als Flieger-As Paul Wendlandt, in dem es zum One-Night-Stand bei romantischer City-Verdunkelung und tönendem Luftkriegsalarm kommt. Die Dialoge klingen nach der Wiedergabe in dem Beitrag von Schütz zum Beispiel so: „Sie: ‚So. und nun knipsen Sie das Licht aus.‘ – Er: ‚Gern, warum?‘ – ‚Warum? Weil ich die Fenster aufmachen will. Sagen Sie, Sie kommen wohl nicht vom Mond?‘ – ‚Na, nicht ganz, aber beinahe.‘ Blick auf die verdunkelte Stadt. Am Horizont ist die Siegessäule zu erahnen. Er: ‚Donnerwetter! Schön, was?‘ – Sie: ,Wie im Märchen.‘“

Fremde Blicke als ‚Kontrastaufnahmen‘

Auffällig differenziert – gerade auch im überraschend wohlwollenden Blick auf Jörg Friedrichs besonders im Ausland scharf kritisiertes Buch – verhält sich der von Wilfried Wilms und William Rasch herausgegebene Sammelband „Bombs Away! Representing the Air War over Europe and Japan“ zum Thema. Das Buch mit Beiträgen internationaler Wissenschaftler setzt schon im Vorwort der Herausgeber mit einer auffällig skeptischen Diskussion traditioneller britischer und US-amerikanischer Sichtweisen auf den Bombenkieg ein, und Daniel Fuldas Aufsatz über Friedrichs „Der Brand“ versucht eine betont nüchterne Einordnung der Abhandlung in literarische Geschichtsdiskurse. Sowohl Sebald als auch Friedrich rekurrieren demnach in ihrem Lakonismus und ihrem Aufgreifen verschiedenster subjektiver Perspektiven auf Alexander Kluges bereits 1977 erschienenen Collage-Roman „Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945″, der im Suhrkamp Verlag 2008 wieder neu aufgelegt wurde – samt einem Auszug aus Sebalds Zürcher Vorlesungen, der sich wohlwollend auf Kluges Buch bezieht. Auch der in den USA lehrende Germanist Timm Menke relativiert in einem bilanzierenden Beitrag zur Sebald-Debatte noch einmal dessen Kritik an einem angeblichen ‚blinden Fleck‘ in der deutschen Nachkriegsliteratur – vor allem, indem er Sebalds in der Tat unangemessen und unterkomplex erscheinende Kritik an Arno Schmidts früher avantgardistischer Bombenkriegsevokation in dessen 1953 erschienenem Roman „Aus dem Leben eines Fauns“ konterkariert.

Um so erstaunlicher ist es angesichts solcher Publikationen, dass vor dem Berliner Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich noch keiner auf die Idee gekommen war, einmal weiter über den deutschsprachigen Tellerrand hinauszusehen und systematisch zeitgenössische Augenzeugenberichte von Autoren zu sammeln, die die Bombardements auf deutsche Städte als Korrespondenten oder Bürger derjenigen Staaten miterlebten, die sich mit dem „Dritten Reich“ im Krieg befanden – oder kurz davor. Stehen doch solche Beobachter am allerwenigsten im Verdacht, mit ihren Beschreibungen irgendwelche Aufrechnungen von Schuld zu betreiben. Lubrich bemerkt im Vorwort zu seiner gelungenen, 2007 erschienenen Anthologie „Berichte aus der Abwurfzone“, solche Reisende hätten „einen fremden Blick“, der die besondere Perspektive ihrer Texte ausmache. „Im Vergleich mit dem Vertrauten, im Unterschied zum Eigenen, vor dem Hintergrund ihrer Kenntnisse, Vorstellungen und Erwartungen können sie als auffällig, bemerkenswert oder befremdlich wahrnehmen, was viele Einheimische vielleicht nicht oder nicht in gleicher Weise sehen – oder sehen wollen. Reportagen können in diesem Sinne Kontrastaufnahmen sein, deren Qualität in einer besonderen Kontrastschärfe liegt.“

Die deutsche Öffentlichkeit glaubte sowieso jede Lüge

Lubrichs Buch versammelt für jedes Kriegsjahr von 1939 bis 1945 Texte solcher Autoren. Mal längere, mal kürzere, teils literarische, teils journalistische – oder auch nur private Tagebuchaufzeichnungen. Das macht die Anthologie besonders abwechslungsreich, schillern ihre Dokumentationen doch in den verschiedensten literarischen Farben von den Versuchen ‚direkter‘ Beschreibungen bis hin zu denen nachträglicher ästhetischer ‚Filterungen‘, wie etwa in den Auszügen aus Kurt Vonneguts berühmtem Dresden-Roman „Schlachthof 5″ (1969) oder auch aus Louis-Ferdinand Célines Büchern „Von einem Schloß zum anderen“ (1957) und „Rigodon“ (1969).

Doch ganz abgesehen von diesem überraschenden Reiz unterschiedlicher Grade literarischer Verdichtungen von Ereignissen, die sich mit herkömmlichen sprachlichen Mitteln überhaupt nicht mehr kohärent darstellen lassen, zieht Lubrichs Band den Leser unmittelbar durch frappierende Beobachtungen in den Bann, die zeitgenössische Deutsche entweder nicht machen wollten oder, weil sie trotz allem bedingungslos der NS-Propaganda glaubten, auch gar nicht konnten. Das geht schon gleich zu Beginn mit den aufregenden Notaten des amerikanischen Korrespondeten William Shirer los, der von 1934 bis 1940 für den Universal News Service und den Rundfunksender CBS aus Berlin berichtete. Allabendlich setzte Shirer sein Leben aufs Spiel, um unter den Argusaugen deutscher Zensoren geschickt verklausulierte Reportagen zu senden, während ab 1939 bereits die ersten britischen Bomben und die Schrappnells der Berliner Flugabwehrbatterien auf ihn herabregneten.

Nicht nur, dass diese Situation, in der der Autor mit allen möglichen rhetorischen Tricks seine journalistische Unabhängigkeit zu wahren versuchte, aus heutiger Sicht aberwitzig erscheinen muss: Vielleicht sogar noch mehr erstaunt den heutigen Leser das, was Shirer zu der damals alltäglichen Bombenkriegs-Berichterstattung der vom Regime gleichgeschalteten deutschen Tageszeitungen zu berichten weiß. Tatsächlich erkennt man in der Strategie von Joseph Goebbels, die deutschen Bombardements britischer Städte, wenn sie denn überhaupt in den Nachrichten eingeräumt werden mussten, als das zu deklarieren, was man heute einen „humanitären Einsatz“ nennen würde, bereits eine Kriegsberichterstattung, wie sie in Deutschland seit dem Kosovo-Krieg von 1999 abermals, wenn auch in anderen Kontexten, ‚Alltag‘ geworden ist. Schon 1939 und 1940 wurde der deutschen Bevölkerung versichert, man bombardiere in England selbstverständlich höchstens militärische Ziele, während es Winston Churchills ‚feige Kriegsverbrecher‘ ausschließlich auf deutsche Frauen und Kinder abgesehen hätten, als „britische Luftpiraten“, denen nichts heilig sei. Goebbels setzte also nicht etwa in erster Linie auf eine martialische Rhetorik des Hasses und der Vernichtung, sondern versuchte zunächst einmal, den deutschen Krieg als schlichten Kampf für eine friedlichere Welt darzustellen: „Rache werde, wie es einige Berliner Zeitungen formulierten, nicht mehr nur im Namen des deutschen Volkes, sondern der gesamten zivilisierten Welt geübt“, referiert Shirer diese NS-Nachrichtenstrategie im September 1940.

Zur Erinnerung: Außenminister Joschka Fischer (Die Grünen) rechtfertigte die erste deutsche Beteiligung an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg nach 1945 gegen Serbien, bei dem wieder einmal beteuert wurde, man werde allein militärische Ziele bombardieren, mit dem Hinweis, dies sei eine unausweichliche Schlussfolgerung aus der ‚Lehre von Auschwitz‘. Und sein damaliger Koalitions-Regierungskollege Rudolf Scharping (SPD) behauptete als Verteidigungsminister, die Bombardements, bei denen – mit deutscher logistischer Unterstützung – in Wahrheit umgehend sogenannte „Kollateralschäden“ sonder Zahl entstanden, also unschuldige Zivilisten umkamen, sei eine notwendige Reaktion darauf, dass der serbische ‚Kriegsverbrecher‘ Slobodan Miloševic unschuldige Albaner massakrieren und in „KZs“ treiben lasse. Damals galt darüber hinaus abermals das, was Shirer schon zu Beginn des Zweiten Weltkriegs beobachtete: Die Bürger nahmen der Presse, die diese Propaganda unkritisch tradierte, diese Behauptungen meistens vorbehaltlos ab. „Ich habe mich heute mit einer ganzen Reihe von Deutschen unterhalten“, notiert Shirer am 7. September 1940: „Die meisten von ihnen scheinen ehrlich zu glauben, daß die deutschen Flugzeuge ausschließlich militärische Ziele angreifen, die Royal Air Force hingegen ausschließlich nichtmilitärische Ziele.“ Wie Erhard Schütz in seinem zitierten Beitrag über das NS-Propaganda-Kino zeigt, folgten damals auch reißerische Luftwaffen-Filme wie Hans Bertrams „Feuertaufe“ (1940), der den Polen-Feldzug verherrlicht, der eindimensionalen Maßgabe dieser Legendenbildung.

Kurz: Der durch solche Inszenierungen beim NS-Publikum gefestigte Glaube, Deutschland führe nichts weiter als einen ‚ritterlichen‘ und gerechten Krieg im Sinne der gesamten menschlichen Zivilisation, den Shirer als US-Beobachter im Alltag des „Dritten Reichs“ allerorten feststellte, macht Lubrichs Anthologie sogar zu einem historischen Kommentar zur jüngsten Zeitgeschichte der Wirkungen neuerer deutscher Kriegspropaganda, wenn man diese Aspekte einmal konsequent durchdenkt: „Die Erklärung des Oberkommandos […] setzt bewusst die Lüge in die Welt, Deutschland habe erst in Reaktion auf das britische Bombardement von Berlin entschieden, London anzugreifen. Und das deutsche Volk wird das schlucken, so wie es heutzutage fast alles schluckt, was man ihm erzählt.“

Um noch einmal Missverständnissen vorzubeugen: Auch wenn die Berliner Republik nichts mit dem „Dritten Reich“ gemein haben mag, der Kosovo-Krieg derjenige eines westatlantischen Bündisses war und nicht in erster Linie einer der Bundeswehr allein, so hat die öffentliche Reaktion auf den Kosovo-Konflikt von 1999 doch gezeigt, dass letztere Beobachtung Shirers nach wie vor eine gewisse Gültigkeit zu haben scheint. Zwar gab es 1999 in Deutschland Antikriegsdemonstrationen, doch die Mainstream-Stimmung in der Gesellschaft des Landes blieb weitgehend unkritisch. Daran änderte 1999 noch nicht einmal das Vorhandensein einer freien Presse und einer kritischen Berichterstattung besonders viel, wie sie damals etwa der Ausnahme-Zeitschrift „konkret“ entnehmbar war. Stand doch dort nur zu lesen, was offensichtlich nach wie vor niemand wissen wollte.

Die Kriegspropaganda nimmt kein Ende

Zehn Jahre später ist aber auch diese auffällig freiwillige ‚Gleichschaltung‘ der deutschen Presse längst schon wieder ‚historisiert‘, wie etwa auch der opulente Osnabrücker Ausstellungskatalog „Bilderschlachten. 2000 Jahre Nachrichten aus dem Krieg. Technik – Medien – Kunst“ zeigt, den Hermann Nöring, Thomas F. Schneider und Rolf Spilker herausgegeben haben. Für den mit unzähligen farbigen Abbildungen nur so gespickten Hochglanzband sind ausgewiesene Spezialisten der derzeitigen Forschung zur Geschichte der Kriegsdarstellungen – Historiker, Literaturwissenschaftler und Medienwissenschaftler wie etwa Gerhard Paul, Manuel Köppen und der enorm umtriebige Fotohistoriker Anton Holzer – gewonnen worden. In den zwei Jahrtausenden propagandistischer Kriegsberichterstattung, die in ihren Essays und Kurztexten abgehandelt werden, haben der Kosovo-Krieg und die übertriebenen Horrorvisionen, die ihn mit herbeiführten, bereits ihren festen Platz gefunden: Scharpings sensationslüsterne Behauptungen über die Gräuel von Racak am 15. Januar 1999 seien, heißt es hier bereits nur noch lapidar, „ein Lehrstück für den gelungenen Versuch, die Meinung der bis dahin schwankenden Weltöffentlichkeit auf der Basis eines einzelnen Ereignisses in eine bestimmte Richtung zu lenken, Widersprüche zu kaschieren oder zu eliminieren und weitgehend auf der Basis des als ‚wahr‘ deklarierten Szenarios eine völkerrechtswidrige kriegerische Aktion zu legitimieren“.

Damit, dass die Bundeswehr, beispielsweise in Afghanistan, abermals unschuldige Menschen bombardieren könnte, scheint heute kaum noch jemand ein Problem zu haben. Thema in den Nachrichten sind denn auch eher tote deutsche Soldaten, die mittlerweile ebenfalls schon ‚Alltag‘ geworden sind.

Lubrichs Anthologie aber zeigt, dass der angebliche deutsche Tabubruch, sich endlich auch einmal selbst als Opfer des Zweiten Weltkriegs begreifen zu können, nachdem sich das Land mit weltweiten Militäreinsätzen als ‚ganz normaler Staat‘ zurückzumelden begonnen hat, sogar schon bereits während des Zweiten Weltkriegs gang und gäbe war, und zwar spätestens, sobald die Deutschen ,befreit‘ waren. So schreibt die berühmte Kriegsberichterstatterin und zeitweise Ehefrau Ernest Hemingways, Martha Gellhorn, über die Bevölkerung der just von den alliierten Truppen eroberten Gegend rund um Köln im Jahr 1945: „Keiner ist Nazi. Keiner ist es je gewesen. […] Die Nazis sind Schweinehunde. […] Ach, wie wir gelitten haben! Die Bomben. Wir haben wochenlang in den Kellern gelebt. Wir haben nichts Unrechtes getan. Wir waren niemals Nazis!“

Gellhorn vernimmt diesen ewigen „Refrain“ aus den Mündern wohlgenährter Bürger in properen, weitgehend unbeschädigten rheinischen Dörfern, und sie besichtigt in der Umgegend staunend gigantische Lagerhallen voller Essensvorräte aus ganz Europa. „Man fragt sich“, spottet die Reporterin, „wie die Naziregierung, für die niemand etwas übrig hatte, fünfeinhalb Jahre den Krieg hat führen können. Keiner in Deutschland, weder Mann noch Frau, noch Kind, hat jemals den Krieg gutgeheißen.“

Unbekannte und verdrängte Blickwinkel

Lubrichs Buch überzeugt darüber hinaus aber auch durch die Vielfalt der in ihm dokumentierten Perspektiven. So beschreibt hier etwa die jüdische Autorin Mirjam Bolle den Bombenkrieg als Totgeweihte im deutschen KZ Bergen-Belsen. Auch dabei manifestiert sich das anmaßende deutsche NS-Opferbewusstsein, das den eigenen Krieg stets als Form der Vergeltung unsagbarer Verbrechen der ‚Anderen‘ rechtfertigte, im Extrem: Als eine Frau bei einem schikanösen, stundenlangen KZ-“Appell“ zusammenbricht und man sie in eine Baracke bringen möchte, sagt der Kommandant des Lagers lapidar: „Laß sie kaputtgehen, bei uns gehen so viele kaputt.“ Bolle befindet sich demgegenüber in der schwierigen Situation, selbst vollkommen ungeschützt alliierten Tieffliegerangriffen auf Bergen­Belsen ausgesetzt zu sein und gleichzeitig darauf hoffen zu müssen, diese Angriffe könnten helfen, das Ende des Krieges und damit ihre eigene Rettung herbeizuführen.

Besonders eindrucksvoll – und geradezu nervenzerfetzend – liest sich in der Anthologie Beirne Lays Erinnerungsbericht „Ich habe gesehen, wie Regensburg zerstört wurde“, der das Bombardement vom 17. August 1943 aus der Perspektive der Angreifer beschreibt. Hier wird dem bestürzten Leser klar, wie gering die Chancen auch der Männer in den Bombern waren, mit dem nackten Leben davon zu kommen. Ihre tagelangen Flüge über ganz Europa waren den pausenlosen Attacken deutscher Flaks und Abwehrjäger ausgesetzt, einem im konkreten Fall des Angriffs auf Regensburg elfstündigen Inferno, das zu überleben kaum noch möglich erschien.

Die Emotionen beim Lesen dieser spektakulären Reportage lassen sich vielleicht mit denen vergleichen, die man beim Anschauen der ersten, mittlerweile berühmten halben Stunde von Steven Spielbergs D-Day-Film „Saving Private Ryan“ (1998) hat. So wie man sich beim Ansehen von Spielbergs Film dabei ertappen kann, dass man in dem Moment, in dem die alliierten Soldaten wie durch ein Wunder durch den feindlichen Kugelhagel hindurch oben auf den Dünenkämmen und an den Bunkern des deutschen Atlantikwalls ankommen, um jeden Mann, der ihnen dort noch mit erhobenen Händen begegnet, sofort erschießen, plötzlich tiefes Verständnis für diese Affekthandlungen verspürt – so verhält es sich auch bei Lays Text. Als das Flugzeug des Zeitzeugen endlich über Regensburg schwebt, ahnt der Leser zumindest entfernt, mit welchen Gefühlen die Bomberpiloten ihre Fracht seinerzeit ausgeklinkt haben dürften – und zwar nicht mehr mit schlechtem Gewissen, sondern voller Erleichterung und im Bewusstsein der vollkommenen Gerechtigkeit ihres Handelns.

Dass es so einfach dennoch nicht war, hat allerdings schon Alexander Kluges Buch über den „Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945″ gezeigt, dessen Einfluss auch auf Lubrichs Textauswahl deutlich zu erkennen ist. In seiner literarischen Collage hatte Kluge ein Interview mit einem Bomberpiloten integriert, das die Unaufhaltsamkeit eines solchen mörderischen Einsatzes gegen die Zivilbevölkerung auf krasse Weise deutlich macht. Es hätte eines nachrichtendienstlichen Vorgangs von sechs bis acht Stunden bedurft, um einen solchen Bombenangriff abzublasen, erzählt der Pilot hier. Egal was unterwegs passierte – wenn die Flieger einmal auf ihrem Weg waren, war es unausweichlich, dass sie ihre ‚wertvollen‘ Bomben nicht mehr irgendwo, sondern allein über dem vorgesehenen Zielgebiet abwarfen. Auch eine riesige weiße Fahne etwa, die vom Kirchturm einer Stadt hätte wehen können, um die Kapitulation zu signalisieren, hätte eine solche Mission aus vielerlei Gründen nicht mehr stoppen können. Ziel der Zerstörung waren außerdem nicht nur die Gebäude, sondern besonders ihre Bewohner. So vergegenwärtigt sich der Pilot in Kluges Buch seine damalige Situation: „Die Bomber überfliegen den Südteil der Stadt, einmal über das Ganze weg, legen ein paar Serienwürfe prophylaktisch an die Stellen, an denen Bevölkerung, die durch den Alarm gewarnt ist, zum Berggelände hin flüchtet. Um da erst mal zuzumachen.“ Mit anderen Worten: Niemand an diesem „militärischen Ziel“ sollte davonkommen.

Lernen kann man daraus zumindest eines: Dass mit dem Bombenkrieg, dessen Methoden seit dem Zweiten Weltkrieg keinesfalls geächtet wurden – egal welches noch so militärisch nachvollziehbare Ziel er einmal verfolgt haben mag – auch ein neues Problem von einer verschärften Vernichtungsqualität entstanden ist, an der wir alle noch einmal zugrunde gehen könnten: „Perhaps new lessons need to be learned, which may be the most desirable reason for reopening the wounds of the past“, bemerken Wilfried Wilms und William Rasch in der Einleitung zu ihrem Band. „To talk of mass slaughter of human beeings as a ‚just retribution‘ for the mass slaughter of human beings, especially now, in an age of nuclear, chemical, and biological weapons, would seem to disqualify anyone from occupying anything that resembles moral ground, wether high or low.“

 

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Wilfried Wilms / William Rasch (Hg.): Bombs Away! Representing the Air War over Europe and Japan.
Rodopi Verlag, Amsterdam 2006.
404 Seiten,
ISBN-10: 9042017597

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Oliver Lubrich: Berichte aus der Abwurfzone. Ausländer erleben den Bombenkrieg in Deutschland 1939-1945.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
476 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783821845838

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Dietmar Süß (Hg.): Deutschland im Luftkrieg.
Oldenbourg Verlag, München 2007.
152 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783486580846

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Manuel Köppen / Erhard Schütz (Hg.): Kunst der Propaganda. Der Film im Dritten Reich.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
298 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783039111794

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Alexander Kluge: Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
144 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783518420355

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Andre Lindhorst / Hermann Nöring / Thomas F. Schneider / Rolf Spilker (Hg.): Bilderschlachten. 2000 Jahre Nachrichten aus dem Krieg. Technik - Medien - Kunst.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009.
440 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783525367599

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