Planetenläufe

Judith Hermanns neues Buch „Alice“ erzählt vom Abschiednehmen

Von André SchwarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von André Schwarz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Im leichten Leben stehen wir, wie Aristokraten, […] wie Liebende, die sich verloren haben, wie Weise, welchen nichts mehr geschehen könnte, was sie überraschte“, so schrieb Peter Altenberg im Jahr 1901 – und ein wenig trifft diese Beschreibung auch auf die Figuren Judith Hermanns zu. Sie scheinen seltsam haltlos zu sein, nicht verwurzelt im Hier und Jetzt, sondern unscheinbar, flüchtig und ohne Erwartung. Bohème-Existenzen, die keinen Alltag haben und schweigend bei Wein und Zigaretten den Tag an sich vorbeiziehen lassen. Bei Hermanns Debüt „Sommerhaus, später“ war sich die Kritik noch einig, dass genau dies der Sound einer Generation sein werde, die Stimme der Twentysomethings aus den angesagten Vierteln Berlins. Der zweite Erzählungsband „Nichts als Gespenster“ wurde hingegen schon wesentlich verhaltener aufgenommen, und doch bot dieser neben einer recht schwachen Titelgeschichte einige wunderbare Momente. Zart und zurückhaltend, geschickt mit den Stimmungen spielend schrieb Hermann darin einige der schönsten Szenen der jungen deutschen Literatur. Das ist es eben, was die Stärke der Autorin ausmacht – und auch hierin ist sie Altenberg ähnlich: Sie schreibt hervorragende Momentaufnahmen von Innerlichkeiten, nachhängenden Gedanken und flüchtigen Gesten. Das große Panorama ist ihre Sache nicht.

„Alice“, Hermanns neues Buch, enthält fünf Geschichten – oder besser gesagt Variationen – über den Tod. In jeder der Erzählungen stirbt ein Mann, der der Protagonistin Alice in der einen oder anderen Weise verbunden war, sei es als Geliebter, Verwandter oder väterlicher Freund. Man befürchtet schon bedeutungsschwangere, pathetische Texte über Sinn und Tragik des Sterbens, doch die Autorin schreibt weniger über den Sterbenden als vielmehr über die Lebenden. Die Männer sterben alleine, ohne dass Alice dabei ist, der Tod kommt über sie und hinterlässt ein merkwürdiges Vakuum, mit dem die Angehörigen und Freunde erst einmal umzugehen lernen müssen. Und hier kommt erneut die Stärke der Autorin zum Tragen, denn Alices Trauer ist keine gefühlsselige, betroffene, sondern eine äußerst distanzierte, ja beinahe resignierende. Ohne viele Worte schreibt Hermann davon, wie die Protagonisten mit dem Verlust umgehen, ihr Leben wieder einrenken und weiterleben. „Wie war das zu verstehen. Und was bedeutete das für alles andere. Alice gab den Grund unter ihren Füßen auf, tauchte ein und schwamm hinaus“, heißt es am Ende von „Conrad“, der zweiten – und besten – Erzählung des Bandes. Antworten gibt es nicht, Gründe ebenso wenig, was bleibt, ist die Aufgabe, mit der Einsamkeit fertig zu werden, denn „es ändert sich, ob du willst oder nicht“.

Ein Gefühl für Stimmungen beweist die Autorin aber nicht nur in dieser, in Italien spielenden Geschichte, in „Micha“, der den Band eröffnenden Erzählung, ist die provinzielle Tristesse eines katholischen Krankenhauses in Zweibrücken beinahe mit den Händen zu greifen. Die Protagonisten dagegen bleiben innerhalb dieser Szenerien unbestimmt, alterslos und beinahe schwebend, nur selten lassen sie die Außenwelt an sich heran. Die Konturen verwischen, man ahnt als Leser lediglich, was diese Leute bewegt. Und doch merkt man, dass dieser Weg, mit dem Verlust umzugehen – diese Distanz und diese Unbestimmtheit, die die Figuren umtreibt – der einzig gangbare ist. Nur einmal bricht diese Distanziertheit auf, wenn Alice in einer Szene die Kleider ihres verstorbenen Lebensgefährten Raymond zusammenpackt und in dessen Winterjacke den Rest eines Mandelhörnchens findet. Hier erhält man einen kurzen Blick in die fragile Seele Alices, spürt ihre Verunsicherung und Verletzlichkeit. Doch schnell zieht sie sich wieder zurück: „wohin damit – das mußte man also lernen. […] Erst finden, dann verstehen, dann wegwerfen. Abstand gewinnen.“

Doch das Buch hat aber auch nicht zu leugnende Schwächen. Die vorletzte Geschichte, „Malte“, in der Alice sich mit dem Freund ihres Onkels trifft – dieser Onkel hatte bereits vor ihrer Geburt Selbstmord verübt –, passt nicht so recht ins Gefüge. Alices Trauer um einen Menschen, den sie nur aus Erzählungen kennt, wirkt merkwürdig konstruiert und uninspiriert. Friedrich – der Freund Maltes – ist ebenfalls keine sonderlich überzeugende Figur, und die Gespräche in der Erzählung wirken hölzern.

Innerhalb der letzten Geschichte, die den Tod von Alices Lebensgefährten Raymond thematisiert, versucht die Autorin überflüssigerweise alle Erzählungen noch einmal zusammenzuführen, die durch die Protagonistin sowieso miteinander verwoben sind. So werden die Namen noch einmal aufgezählt, die Chronologien erläutert, die man als Leser längst kennt. Wozu das alles, fragt man sich, zumal einige Passagen dadurch äußerst bemüht und durch den Wink mit dem Zaunpfahl fast unfreiwillig komisch wirken. Eine geschickte Wahl war diese Dramaturgie definitiv nicht.

Und so ist auch Judith Hermanns dritter Band mit Erzählungen – ebenso wie „Nichts als Gespenster“ – merkwürdig unentschieden. Der Verdienst der Autorin ist es zweifelsohne, ein schweres Thema mit einer erstaunlichen und überaus erfreulichen Leichtigkeit angegangen zu sein. Gerade die ersten beiden Geschichten zeugen von dem erzählerischen Talent Hermanns, die in ihren besten Momenten Altenberg’sches Format haben. Doch es zeigt sich auch, dass es ihr nicht gelingt, diese Stärke über das ganze Buch hinweg wirksam werden zu lassen. Vielleicht ist das der Grund, wieso sie den lange erwarteten Roman auch dieses Mal wieder nicht in Angriff genommen hat.

Zeitgleich mit dem Buch ist auch das von der Autorin selbst gelesene Hörbuch erschienen. Auf vier CD findet sich die vollständige Lesung der Erzählungen – und es ist ein Vergnügen, dieser zuzuhören. Mit ruhiger, unaufgeregter Stimme liest Hermann, ohne in einen pathetischen oder klagenden Ton zu verfallen, der bei diesem Thema durchaus zu befürchten wäre. Das vom RBB sorgfältig produzierte Hörbuch ist zwar etwas karg ausgestattet – ein Booklet etwa such man vergebens –, aber dennoch eine schöne Ergänzung zum Buch.

Titelbild

Judith Hermann: Alice. 4 CDs.
Der Hörverlag, München 2009.
280 min, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783867174350

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Judith Hermann: Alice.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
190 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783100331823

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch