Tragischer Karneval

Wie es kommt, dass sich Anne D. Peiters Arbeit zur Verbindung von „Komik und Gewalt“ und Matthias Schönings Studie über eine „Versprengte Gemeinschaft“ an vergleichbaren Problemen abarbeiten

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn von der „literarischen Verarbeitung“ der Weltkriege des letzten Jahrhunderts die Rede ist, spielt es nicht von Ungefähr eine große Rolle, welchem politischen Lager die thematisierten Autoren zuzurechnen sind. Erschreckend wenige Schriftsteller kritisierten 1914 den Ersten Weltkrieg, während ihn um so mehr Autoren, die in Deutschland als Wortführer auftrumpften, ohne Skrupel zu verherrlichten suchten. „Daß sich in diesem Krieg […] die Kultur nicht erneuert“, stellt wohl deswegen der „Nörgler“ in dem Drama „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus (1919) voller Sarkasmus fest, „sondern sich nur durch Selbstmord vor dem Henker rettet. Daß er mehr war als Sünde: daß er Lüge war, tägliche Lüge, aus der Druckerschwärze floß wie Blut, eins das andere nährend, auseinanderströmend, ein Delta zum großen Wasser des Wahnsinns.“ Denn die „deutsche Bildung“ sei, so die als Alter Ego von Kraus lesbare Theaterfigur, „kein Inhalt, sondern ein Schmückedeinheim, mit dem sich das Volk der Richter und Henker seine Leere ornamentiert“.

Richtig kompliziert wird die literaturwissenschaftliche Analyse kriegskritischer oder kriegsverherrlichender Werke aber erst dann, wenn sie sich mit dem verstörenden Phänomen auseinanderzusetzen hat, dass sich solche eindeutigen Intentionen innerhalb der Texte unter der Hand in ihr Gegenteil verkehren konnten. Sogar moralische Instanzen wie Kraus selbst konnten in ihrem extremen polemischen Habitus gegen den Krieg plötzlich zu fragwürdigen Vorbildern werden, die selbst ihre glühendsten Anhänger durch deren gewandelte Wahrnehmung ihres Idols zu vernichtenden Kritikern werden ließen. In der Rede der zitierten Figur des „Nörglers“ bei Kraus etwa deutet sich ein solcher Umschwung schon an, als er sich in einer Hasstirade dazu hinreißen lässt, die Rhetorik der Menschenvernichtung einfach nur selbst gegen ihre Erfinder zu wenden: „Sie können auf meine Ungerechtigkeit bauen. Wenn der Militarismus dazu diente, den Unrat daheim zu bekämpfen, so wäre ich Patriot. Wenn er dann die, die nicht taugen, assentierte, wenn er Krieg führte, um den Menschendreck an die feindliche Macht abzutreten, wäre ich Soldat! Aber er mobilisiert den Abhub, er verschafft ihm die Glorie und er macht ihn, wenn’s selbst außen schief geht, immer noch zum Sieger über den eigenen Staat.“

Anne D. Peiter hat sich in ihrer Arbeit über „Komik und Gewalt“ vor allem mit Karl Kraus und Elias Canetti auseinandergesetzt. In ihrer über 450-seitigen Studie untersucht die Autorin unter anderem, wie Kraus den Ersten Weltkrieg in seinem berühmten, größtenteils zwischen 1914 und 1918 entstandenen Drama „Die letzten Tage der Menschheit“ zunächst als „tragischen Karneval“ auffasste, indem sie das Stück mit Hilfe von Michail Bachtins „Karnevalsutopie“ noch einmal neu liest. Da die Literaturwissenschaftlerin in ihrer Arbeit auch auf den Zweiten Weltkrieg und die Shoah zu sprechen kommt, wird bei ihr sodann die zunehmende Skepsis gegenüber dem wortmächtigen Sprachkritiker Kraus zum Thema, wie sie etwa in Canettis Beschreibung von dessen typisch österreichischen Lesungspublikum als „Hetzmasse“ zum Ausdruck kommt.

Canetti habe als jüdischer Intellektueller, „der zunächst an die kritische und entlarvende Funktion der krausschen Satire und des gemeinschaftlichen Gelächters glaubte“, beschrieben, wie er als Zuhörer und somit am eigenen Leibe die Pervertierung der krausschen Kunst zu einer Art „Diktatur“ erlebte. Nachdem Kraus zur Bestürzung vieler Anhänger in der „Fackel“ vom Juli 1934 sogar für das austrofaschistische Dollfuß-Regime Partei ergriffen hatte, war auch Canetti tief verletzt und bezeichnete das große Vorbild, seinen früheren „Gott“, nur noch als „Goebbels im Geiste“ und als „Hitler der Intellektuellen“.

Mit dem ostgalizischen Schriftsteller Soma Morgenstern stellt Peiter in ihrer Arbeit einen weiteren, um so schärferen Kritiker von Kraus vor. Auch Morgenstern war zunächst ein exzessiver Leser der „Fackel“, verehrte Kraus als „größten Satiriker aller Zeiten“ und gab an, dem „Banne des unerschrockenen Kämpfers gegen den Krieg kritiklos verfallen“ gewesen zu sein. Im Gegensatz zu Walter Benjamin, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Elias Canetti aber distanzierte sich Morgenstern besonders vehement von Kraus‘ Antisemitismus, der oft auch als Form „jüdischen Selbsthasses“ diskutiert worden ist.

Diese Kritik gipfelte bei Morgenstern in der in ihrer Schärfe, wie Peiter betont, wohl unüberbietbaren Anklage, einige Verse von Kraus hätte man, ebensogut wie die berüchtigte Formulierung „Arbeit macht frei“, über dem Eingangstor von Auschwitz anbringen können. Peiter stellt in diesem Zusammenhang die These auf, dass der Fall von Kraus und seiner extremen Kritik durch Morgenstern deutlich zeige, dass mit dem merkwürdig ironischen Umgang, wie ihn Kraus mit seinen antisemitischen Allüren zeitlebens pflegte, angesichts der Shoah endgültig „kein Spaß mehr zu treiben“ war. Peiter weitet diesen naheliegenden Befund zu dem ‚lachtheoretischen‘ Postulat aus: „Die Satire verliert ihre emanzipatorische Funktion, wenn sie die neuartige reale Gewalt nicht als Zäsur für ihr Selbstverständnis und für ihr Verhältnis zum Publikum begreift.“

In ihren darauf folgenden Kapiteln, in denen Peiter unter anderem frauenfeindliche und antisemitische Stereotypen in Canettis Roman „Die Blendung“ (1935) untersucht, versucht die Germanistin jedoch, die behandelten Autoren im Sinne gebotener Differenzierungen bis zu einem gewissen Grade auch wieder ‚zu retten‘. Kaum vorwerfen kann man ihr, dass sie bei dem ohnehin schon relativ großen Umfang ihrer Arbeit nicht noch mehr Schriftsteller behandelt hat – und doch fordert ihre These, mit der Shoah sei das Stilmittel der Komik in Texten über diese historischen Zäsur endgültig fragwürdig geworden, eine Auseinandersetzung mit dem Werk Edgar Hilsenraths geradezu heraus. Könnte man in seinen Romanen doch so etwas wie die in literarische Praxis umgesetzte Gegenthese erkennen – samt aller Empörungen, Missachtungen und Fehllesungen, die diese in der Rezeption seines wohl einzigartigen Werkes nach sich zog.

Matthias Schönings Arbeit „Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914-33″ nimmt sich, wie der Titel schon erkennen lässt, die Werke ganz anderer Schriftsteller vor, und zwar vor allem derjenigen der politischen Reaktion, für die wohl am paradigmatischsten der Name Ernst Jünger steht. Schönings Habilitationsschrift nimmt sich also nicht in erster Linie das partielle Scheitern von Antikriegs-Autoren vor, sondern fragt eher nach literarischen Reaktionen auf das „Problem schwindender gesellschaftlicher Kohäsion“, dem schließlich selbst Schriftsteller wie Thomas Mann mit der beklagenswert emphatischen Begrüßung der „Ideen von 1914″ begegneten.

Ziel dieses ideologischen Konstrukts war laut Schöning ein „inklusiver Kulturkriegsnationalismus“, der verhieß, verlorene Gemeinschaftsgefühle durch eine „nationale Selbsterschaffung qua Krieg“ wieder zu restituieren. Die Realität des Ersten Weltkriegs zeigte aber dann sehr schnell, dass das genaue Gegenteil geschah: Gerade unter den Soldaten an der Front traten die alten gesellschaftlichen (Klassen-)Konflikte um so schärfer wieder auf. Wie Schöning zeigt, führte dies auf Seiten explizit kriegsbefürwortender Autoren zu den verschiedensten literarischen Strategien, mit denen sie versuchten, dieses manifeste Scheitern der „Utopie“ eines Gemeinschaft stiftenden Kriegs sprachlich zu kaschieren.

In einem der größten Bestseller aus der Zeit der Weimarer Republik, „Der Wanderer zwischen beiden Welten. Ein Kriegserlebnis von Walter Flex“ (1917), führte dies laut Schöning etwa zu einer „weitgehend geschönten Wirklichkeitsdarstellung“, um beim Leser „ein irreführendes Einverständnis“ zu erzielen. „Stark ideologisch“ sei der Roman von Flex „demnach auch insofern, als er zu einer Verständigung über das Wesen des Krieges, seine Konsequenzen etc. nichts beitragen kann, nicht einmal in einem affirmativen Milieu ungeteilter Zustimmung“. Erfahre man doch in dem Roman nichts darüber, „wie es an der Front ist, aber viel darüber, wie man es sich vorstellen soll“.

Ernst Jünger wird dagegen von Schöning als ein Autor aufgefasst, der der Realität des Krieges immerhin offen ins Auge gesehen habe, als einer Vernichtung aller Kultur und als freudig begrüßte Propaganda eines Neubeginns von „äußerster Radikalität“. Schöning unterscheidet bei der Gelegenheit zwischen „politischer“ Kriegsliteratur, die unabhängig von ihrer konkreten Stoßrichtung der Beschreibung der realen Erfahrung des Krieges nicht aus dem Wege gehe, und der „ideologischen“ Schreibweise im Sinne von Flex. An diesem Punkt seiner Ausführungen wird denn auch besonders deutlich, wie und warum Schöning seinerseits der klassischen Ideologiekritik, besonders im Blick auf Jüngers Schriften, geschickt aus dem Wege zu gehen versucht: „Politische Vorentscheidungen bei der Interpretation der Kriegsliteratur sind an dieser systematischen Stelle, an der es um die kognitive Adäquatheit der untersuchten Texte geht, nicht nur unnötig, sondern schädlich, weil sie ein tieferes Verständnis der Geschichte behindern.“

Ein Argument, über das sich, so intelligent es Schöning auch herleitet, trefflich streiten ließe. In jedem Fall aber kommt auch Schönings Studie in ihrem Versuch, die agitatorische Literatur verschiedener Lager von literarischen ‚Kriegsbefürwortern‘ möglichst ‚leidenschaftslos‘ zu betrachten, zu wichtigen Ergebnissen. Deutlich wird, „dass die Frage nach kriegsbejahendem oder kriegsverneinendem Charakter der Kriegsliteratur kein hinreichendes Kriterium zu deren Beurteilung darstellt, wenn nicht die Frage danach, wie sich die Werke hinsichtlich der Darstellung von Gemeinschaftlichkeit überhaupt verhalten, hinzugenommen wird“.

Ein in der Tat schlagendes Beispiel hierzu liefert Schöning mit Erich Maria Remarques angeblichem Antikriegsroman „Im Westen nichts Neues“ (1928), weil dieser Text seine ‚pazifistische‘ Stoßrichtung dadurch unterlaufe, dass er seine Protagonisten als „sympathische Peergroup darstellt, für die der Krieg – abgesehen von dessen Tödlichkeit – eine täglich beglückende Gemeinschaftserfahrung darstellt“, wie Schöning treffend formuliert.

Kurz: Sowohl „Antikriegsautoren“ wie Remarque als auch unverbesserliche Propagandisten des Krieges wie Jünger waren also mit dem Problem konfrontiert, dass ihre Texte bei den Lesern mitunter das Gegenteil von dem erreichten, was sie selbst damit bezweckten. So wird bei Schöning wunderbar deutlich, warum für solche Autoren das Stilmittel der Paratexte so wichtig wurde: Mit komplexitätsreduzierenden Motti versuchten sowohl Remarque als auch Jünger, die nur schwer einzudämmende Eigendynamik ihrer Texte im Blick auf die tückischen Leseremotionen ‚in Schach‘ zu halten, während „ideologische Autoren“ wie Flex diesem ästhetischen Problem von vorneherein aus dem Weg gingen, indem sie den Krieg überhaupt nicht darstellten, sondern mythisch oder religiös verbrämten.

Zu diskutieren bliebe an Schönings Arbeit allerdings, inwiefern sein Ansatz, als Folge dieser Beobachtungen gerade die radikale soldatische Kriegsliteratur als besonders aussagekräftige „Quelle“ wieder aufzuwerten, ihrerseits als subtiler ‚Trick‘ problematisierbar wäre, der eine weiterführende Ideologiekritik an rechtsextremen Autoren a priori aushebelt, ja offen diskreditiert. „Sie entwerten sich nicht“, beschwört uns Schöning am Ende seiner Arbeit im Blick auf Werke wie die Jüngers, „wenn sie Widersprüche zusammenzwingen, sondern werden gerade dadurch zu unentbehrlichen Dokumenten widersprüchlicher Gesinnungen“.

Gewiss, das stimmt – und trotzdem legt man Schönings Buch zuletzt etwas erstaunt aus der Hand, weil in ihm ausgerechnet die ‚bösesten Buben‘ des literarischen Spektrums der „Konservativen Revolution“ am Ende als so etwas wie die ‚literarischen Sieger‘ dastehen: „Die Kriegsbücher von Edlef Köppen oder Alexander Moritz Frey sind kognitiv und ethisch unmittelbar anschlussfähig“, räumt Schöning auf der letzten Seite seiner Studie großzügig ein: „Dafür verdienen sie unsere volle Wertschätzung.“ Um sodann das literaturgeschichtliche ‚Primat des Modells Ernst Jünger‘ wie folgt einzuleiten: „Als Quellen für das verzweifelte Festhalten am Ziel nationaler Gemeinschaft im Moment ihrer Versprengung sind sie dagegen unergiebig. Sie zeigen, was besser gedacht worden wäre, aber nicht was tatsächlich gedacht wurde.“

Zu fragen bliebe hier doch, ob das, was so gewaltverliebte Autoren wie Jünger propagierten, nun wirklich das war, was seinerzeit des Diskurs wesentlich ausmachte. Bleibt doch auch dies, aller aufgebotenen literaturwissenschaftlichen Formulierungskunst Schönings zum Trotz, eine bloße Setzung, die ihrerseits als ein gelehrter Paratext entschlüsselbar sein könnte, der nicht eben zufällig besonders Jünger-Fans zur Zustimmung aufrufen dürfte.

 

Titelbild

Anne D. Peiter: Komik und Gewalt. Zur literarischen Verarbeitung der beiden Weltkriege und der Shoah.
Böhlau Verlag, Köln 2007.
456 Seiten, 59,90 EUR.
ISBN-13: 9783412242060

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Titelbild

Matthias Schöning: Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914-33.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009.
330 Seiten, 42,90 EUR.
ISBN-13: 9783525200179

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