Gefährliche Briefschaften

Zwei Bücher zur Konstruktion von „Liebe“ und „Tugend“ im Medium des Briefs seit dem 18. Jahrhundert

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Privatbrief, wie wir ihn kennen, auch wenn wir ihn kaum noch praktizieren, hat seinen Ursprung im Diskurs der Empfindsamkeit in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Briefe und Tagebücher boten sich als Textsorten für alle Lebenslagen des bürgerlichen Subjekts an, das sich auf diese Weise im privaten, geschützten Bereich einen Spiegel vorhalten konnte und sich schreibend in der Fertigkeit übte, das Innerste zu erforschen und zur Sprache zu bringen. Dabei sollte eine von den rhetorisch aufgeladenen Regeln der Briefsteller befreite ‚natürliche‘ und individuelle Sprache zum Vorschein kommen. Heute wissen wir: Der empfindsame bürgerliche Briefschreiber – und erst recht die Briefschreiberin – konnte also neben und vor allem Mitzuteilenden sich selbst erfinden.

Zwei wissenschaftliche Neuerscheinungen zum Thema Brief richten ihren Fokus zunächst auf Texte des 18. Jahrhunderts und kommen dabei – was Wunder – zu dem Resultat, dass die vermeintliche Natürlichkeit und Intimität der Briefsprache auf teils uneingestandenen Konventionen beruht. Dabei geht es einmal um fiktionale, einmal um „authentische“ Texte: Esther Suzanne Pabst zeigt anhand mehrerer französischer Briefromane von Jean-Jacques Rousseau bis Pierre-Ambroise-Françoise Choderlos de Laclos, wie einerseits im Briefroman die neuen antagonistischen Geschlechterstereotypen der Aufklärung eingeübt werden, die für die Frau (und für deren bevorzugte Textsorte Brief) „Tugend“ vorsehen – wie aber dann gerade die ebenfalls neu zu erprobende polyperspektivische Erzählweise des Briefromans eine Dehierarchisierung einander widersprechender Konzepte von Tugend und Leidenschaftlichkeit mit sich bringt. Der unter anderem von Renate Stauf herausgegebene Sammelband zum Liebesbrief befasst sich in etwa 20 Fallstudien vor allem mit ‚realen‘ Korrespondenzen, in denen immer wieder das Wechselspiel von vorgeschützter Echtheit und Konstruiertheit des erschriebenen Gefühls, von Leidenschaft und Kalkül, beleuchtet wird.

Der Briefroman war in England, Frankreich, dann auch in Deutschland eine der beliebtesten Gattungen des 18. Jahrhunderts. Pabst legt überzeugend dar, dass er als Vehikel veränderter Auffassungen von Weiblichkeit und weiblicher Identität diente. In einer erzählten Welt, die derjenigen der zeitgenössischen Leser weitestmöglich entspricht, wird der Geltungsanspruch des nun mit der Frau verbundenen Tugendkatalogs (also etwa: Mitleid, Wohltätigkeit, Treue, Keuschheit, Sittsamkeit) durchgespielt. Ein durch Lektüre angeregter Identifikationsprozess trägt zur Internalisierung der immer wieder geforderten Dämpfung der natürlichen Affekte bei. Rousseaus epochaler Roman „Julie ou La nouvelle Héloïse“ gehorcht auf semantischer Ebene jedenfalls diesem Paradigma. Doch ist es Pabsts Verdienst nachzuweisen, dass ausgerechnet die damals innovative Form des Briefromans dazu beiträgt, dass die explizite Botschaft bereits unterlaufen wird.

Pabst liefert einen innovativen und engagierten Forschungsbeitrag zu einem wichtigen komparatistischen Forschungsfeld – von ihrem Buch könnten Impulse auch auf die etwas erlahmten germanistischen Bemühungen um den Briefroman ausgehen. Ist vordergründig eine strikte Unterscheidung zwischen den brieflichen Äußerungen der tugendhaften ‚Guten‘ und der allzu leidenschaftlichen ‚Bösen‘ möglich, so könnte sich schon der Leser des 18. Jahrhunderts gefragt haben, warum die Bösen nicht selten die Interessanteren sind (auch oder gerade weil sie nicht zur Identifikation vorgesehen sind). Ihre zunächst vielleicht exotischen Positionen erschließen sich dem empathischen Leser umso mehr, je ausführlicher diese Innenwelten dargeboten werden, je mehr sie nachvollziehbar werden. Indem der Briefroman zunehmend auf die Kohärenz der erzählten Geschichte und die Superiorität einer Erzählinstanz verzichtet, muss er einander widersprechende Positionen zulassen und nähert sich langsam einer Lebenspraxis an, in der dem Individuum keine übergeordnete Instanz mehr verbindlich sagen kann, was Sinn eigentlich sei, in der das obligatorische Tugendgebot schwächeren Widerhall zu erfahren beginnt.

Während Rousseaus Briefroman die soziokulturelle Aufwertung ‚tugendhafter‘ Weiblichkeit noch um den Preis des Ausschlusses der weiblichen Erzählstimme aufrecht erhält, bietet Choderlos de Laclos’ Roman „Les Liaisons dangereuses“ ein vielstimmiges Textuniversum, dessen Normen und Werte sich gegenseitig unterminieren, ohne dass eine bevorzugte Textnorm erkennbar würde. Mit der im Erzählprozess keineswegs einseitig abgewerteten Marquise de Merteuil hat sich auch die Vorstellung einer ‚natürlichen‘ weiblichen Tugend erledigt.

Vor allem der deutschsprachigen Literatur wendet sich der Sammelband zum Liebesbrief zu, der sich dem Ziel verschrieben hat, „Grundfiguren der Liebesbriefsprache“ auszumachen. Natürlich ist auch die Rede über die Liebe alles andere als natürlich – schon im 18. Jahrhundert wird das vermeintlich Unmittelbare, die Gefühlssprache, auf erkenntnistheoretische, mediale und soziale Bedingungen hin perspektiviert. Im Zentrum des kulturanthropologisch und zugleich literaturgeschichtlich interessierten Bandes steht die durch die Postmoderne inspirierte These, ‚Liebe‘ gehe vielleicht erst aus dem Schreibprozess selbst hervor.

Eine erste Gruppe von Beiträgen widmet sich dem Wunschbild der Unmittelbarkeit im bürgerlichen Liebesideal des 18. Jahrhunderts, eine zweite den Reinszenierungen seit etwa 1900, als in Abkehr von einer Ökonomisierung der Affekte der Liebesbrief erneut aktuell wird, und zwar in Anlehnung an Inszenierungspraktiken in Politik und Kunst, wobei die früher insinuierte ‚natürliche‘ Spontaneität zugunsten von Fiktionalisierungsverfahren zurückgefahren wird. Der etwas unscharfe dritte thematische Bereich umspielt die Grenze von authentischen und fiktiven/fiktionalen Briefwechseln im Zeichen von Verlautbaren und Verbergen, Zuverlässigkeit und Unzuverlässigkeit des Erzählens bis zur Gegenwart. Denn der Liebesbrief ist nicht totzukriegen, wie Annette Simonis’ Schlussbeitrag zur elektronischen Liebeskommunikation in der Gegenwart festhält.

Zwar verfahren einige der Beiträge, deren Briefschreiberspektrum von Gotthold Ephraim Lessing bis Dietrich Bonhoeffer, von Samuel Richardson und Denis Diderot bis Franz Kafka reichen, stellenweise unreflektiert narrativ. Insgesamt jedoch ist das Undogmatische der unterschiedlichen methodischen Zugänge ein Pluspunkt des Bandes, die meisten Autoren verorten sich in Kulturanthropologie oder Dekonstruktion. Grundlegend neue Einsichten vermitteln etwa Jörg Paulus’ Aufsatz über Jean Pauls inszenierte Liebesbriefkultur oder der unter anderem von Wolfgang Braungarts verfasste Beitrag zu platonisierender Erotik und Homoerotik in Gedichten und Briefen des George-Kreises, einem Ort der erzieherischen und eminent hierarchischen Liebeskommunikation.

Eine Geschichte des Liebesbriefs konnte nicht entstehen. Zu vielschichtig sind die Möglichkeiten des Briefs, zuwenig linear scheint sich entwickelt zu haben, was man unter ‚Brief‘ verstand. Vielleicht hat sich dieses Verständnis zwischen 1750 und 1950 auch kaum verändert. Nicht ganz klar werden auch eventuelle Grenzen zwischen Liebesbriefen und dem, was ‚danach‘ kommt, also dem „Beziehungsbrief“, wie man ihn nennen müsste. Folgt man etwa Roland Barthes’ „Fragmenten einer Sprache der Liebe“, dann zielte der Liebesbrief immer schon auf die Ersetzung der brieflichen Kommunikation durch Interaktion, dürfte ‚Liebesbrief‘ gleich ‚Werbungsbrief‘ sein, nicht mehr.

Neben dem 2008 erschienenen Frankfurter Katalog zum Brief als „Ereignis und Objekt“ liegt jetzt ein weiterer kulturwissenschaftlicher Beitrag zu dieser Textsorte oder diesem Medium vor – nach einer längerfristigen Marginalisierung als Forschungsgegenstand. Hervorzuheben ist, dass der Band sich nicht auf Literaten-Liebe beschränkt – allerdings steht zu vermuten, dass Kanzler und Könige sich als Liebesbriefschreiber genauso in empfindsamer Sprache versuchen wie Lyriker. Den Beweis treten Otto von Bismarck (nebst seiner Verlobten Johanna von Puttkamer) und der Preußenkönig Friedrich Wilhelm II. (mit seiner ‚schönen‘ Wilhelmine) an. Doch wer weiß heute, dass vor 100 Jahren Bismarcks Brautbriefe in einer Prachtausgabe nachzulesen waren, die geradezu als Hausbuch gelten durfte. Wenn zwischendurch auch Briefroman und Brieftheorie verhandelt werden, leidet zwar die Homogenität des Bandes ein wenig, dem Interesse des Lesers tut dies aber keinen Abbruch.

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Esther Suzanne Pabst: Die Erfindung der weiblichen Tugend. Kulturelle Sinngebung und Selbstreflexion im französischen Briefroman des 18. Jahrhunderts.
Wallstein Verlag, Göttingen 2007.
339 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783835301276

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Titelbild

Renate Stauf / Annette Simonis / Jörg Paulus (Hg.): Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart.
De Gruyter, Berlin 2008.
400 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783110200409

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