Kein Anfang und kein Ende

Peter Kurzecks neu aufgelegter, wesentlich überarbeiteter Roman „Kein Frühling“ handelt von skurrilen Figuren aus einer verlorenen Zeit

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kennen Sie die Stadt Staufenberg? Oder Lollar? Nicht? Aber vielleicht haben Sie ja schon einmal von der Firma Buderus gehört? Wir befinden uns in Hessen: Wer mit dem Zug von Gießen aus in Richtung Marburg fährt, kann die Fertigungshallen des Betriebs auf der linken Seite direkt neben den Gleisen sehen, während er die kleine Stadt Lollar passiert. Und dann taucht auch schon, wenige Sekunden später, auf der rechten Seite ein langgezogenes Dorf auf einem Hang auf, der wie ein großer Bremskeil in der Landschaft liegt, mit einem Schloss auf seiner höchsten Stelle. Das ist Staufenberg.

Wer das Werk des Schriftstellers Peter Kurzeck kennt, oder sagen wir: Wer auch nur einen einzigen seiner Romane gelesen hat, dem sind alle diese unscheinbaren Ortsnamen plötzlich ein Begriff. Besonders aber demjenigen, der den zuerst 1987 erschienenen und 2007 in einer erweiterten Neuauflage, noch dazu mit 12 neuen Kapiteln publizierten Roman „Kein Frühling“ auch nur aufschlägt, wird klar: Staufenberg, dieses winzige, unbekannte Kaff im Nichts der hessischen Provinz, wird durch die Literatur Kurzecks als Kosmos erfahrbar. Hier verbirgt sich ein ganzes Universum von Erinnerungen, geweckt durch einen unscheinbaren lieu de mémoire in einer Landschaft, deren Legenden und vergessene Geschichten der Schriftsteller wieder zum Sprechen bringen möchte. Das sind hier ausnahmsweise einmal keine bloßen Phrasen: Lesen Sie nur ein, zwei Kapitel dieses Romans, und Sie fragen sich sofort, ob Sie nicht auch einmal nach Staufenberg pilgern sollten, um dort selbst dem nachzuspüren, von dem Kurzeck uns in seinem Buch, mit seinem so unverkennbaren Ton, erzählt. Gibt es dort vielleicht nicht doch noch eine Ahnung dieser Atmosphäre, dieser Gerüche, dieser Farben, dieses Lichts?

„Auf der Lahn fahren keine Schiffe. Wir hätten immer gewollt, daß auf der Lahn Schiffe fahren“, schreibt Kurzeck an einer Stelle, als spräche ein Kind aus seinem Buch. Ein typischer Satz, der die merkwürdige Sehnsucht nach der Vergangenheit andeutet, die diesen Roman teilweise prägt. Es geht hier aber nicht um ‚Heimatliteratur‘ im platten Sinn – das Wort „Heimat“ sollte ein Schriftsteller nach Auschwitz auch gar nicht mehr ernsthaft benutzen. Kurzeck spürt also nicht unbedingt einer ‚verlorenen Jugend‘, einer Kindheit voller Glück nach, die er, zu Beginn der 1950er­-Jahre selbst als Flüchtlingssohn nach Staufenberg gekommen, hier verlebte. Nein, dieser Autor versucht das Unmögliche: Er versucht, gleich alles zu erzählen, was er in diesem Dorf erlebt hat, alles, was die Leute, die er dort sah, dachten, und überhaupt alles, was er über Staufenberg und die Umgegend jemals erfahren hat. Dass dabei keine Literatur herauskommt, die sich ungefähr so langatmig liest ist wie das Telefonbuch des Landkreises Gießen, das ist die große Kunst von Peter Kurzeck.

„Kein Frühling“ ist nicht zuletzt ein dunkles Buch voller Schatten, voller Gespenster und voller Leidensgeschichten. Es hebt an mit kurzen Schlaglichtern auf die Zeit des Dreißigjährigen Kriegs, so wie es in dem Text immer wieder Rückblicke gibt auf die düsteren Zeiten, als hier grausame Kämpfe wütenten, Menschen geschunden und rassistisch verfolgte „Zigeuner“ hingerichtet wurden. Kurzeck erinnert an Epochen, als in und um Staufenberg allerlei Räuber und Tyrannen hausten, und die Menschen, die hier lebten, an deren Verbrechen teilnahmen – als tumbe Mitläufer, die sich wiederum selbst auf dem Feld, auf dem Hof oder sonstwie totarbeiteten, ohne jemals gegen ihr wie selbstverständlich hingenommenes Schicksal aufzubegehren: Ein Sklavendasein, das bis in die gegenwärtige Erzählzeit des Romans andauert, als sich die Romanfiguren durch die ewigen Nachtschichten bei Buderus um ihre Gesundheit gebracht sehen, ehe sie wirklich begreifen, wie ihnen überhaupt geschieht und ihnen ihr Leben gestohlen wird.

In Kurzecks Buch wird plastisch, wie schwer das Leben in dieser Gegend schon immer gewesen sein muss, durchzuckt aber auch von einzelnen Epiphanien kaum ausformulierbaren Glücks, einer Freude des Augenblicks und des unwiederbringlichen Moments. Nichts ist Kurzeck hier zu klein, um einmal eine Maxime Arno Schmidts zu zitieren, die sich dieser in der Nachkriegszeit bei seinem ‚Urahnen‘ Adalbert Stifter abgeguckt hatte. Kurzeck macht daraus eine geradezu selbstreflexive Poetologie: „Brotkanten, Ziegenmlich und erfrorene Äpfel. Gerste gekaut überm Weg. Und hast dir dabei ausgedacht, wie du nachmalig davon erzählen wirst, wem und mit welchen Worten.“

Erzählt wird hier aber nicht nur aus der Kindheitsperspektive, sondern auch aus der von Arbeitern, Alkoholikern und gescheiterten Existenzen. Da ist zum Beispiel Otto, der Sattler, der sowieso kaum Kundschaft hat, und den Tag über Bier trinkt, bis es Abend ist und er endlich seine Staufenberger Kneipentour beginnen kann. In einer kalten Nacht sieht ihn der kindliche Erzähler einmal auf der Straße stehen und mit sich selbst diskutieren, mit nur einem Schuh an den Füßen. Andererseits ist da Hoinrich, der Automat, ein spielsüchtiger Herumtreiber, Hilfsheizer bei Buderus, der schon von einem halben Glas Bier betrunken wird und dem alle Schnaps spendieren wollen, um das zu beobachten, was dann mit ihm passiert. „Der Hoinrich im Schnee. Als wolle er mit den eigenen Füßen zurück in die Erde hinein, ein verlorener Strauch ohne Wurzeln. Er steht wie ein Zauberer, der nicht weiß, wie er zaubern soll. Ein Zauberer, der vergessen hat, wie es geht – die Hände, wo sind die Hände denn hin und was tun sie da?“

1991 erhielt Kurzeck für die zusätzlichen Kapitel dieses Romans, die hier zum ersten Mal veröffentlicht wurden, den Alfred-Döblin-Preis. Er hätte dafür noch mehr Auszeichnungen verdient. Den Büchner­-Preis, zum Beispiel. Mindestens. Wer das nicht glaubt, der sollte zumindest ausprobieren, wie es ist, wenn man Kurzeck zuhört. Denn „Kein Frühling“ gibt es, zumindest in Auszügen, auch als Hörbuch, gelesen von dem Autor selbst. Hier wird spürbar, wie eigentümlich Kurzecks literarisches Erinnerungsprogramm mit der besonderen Form seines mündlichen Erzählens verbunden zu sein scheint, wie sehr es ihm selbst entspricht.

Es muss übrigens gar nicht der hier vorgestellte Roman sein. Man kann zum Beispiel auch mit dem 2008 erschienenen Hörbuch zu dem autobiografischen Werk „Oktober und wer wir selbst sind“ anfangen. Das hieße bloß, mit einem anderen Kapitel einzusteigen in die literarische Parallelwelt dieses Autors. „Staufenberg im Kreis Gießen“ begegnet einem auch in „Oktober und wer wir selbst sind“ bereits nach wenigen Sätzen: Für die Erzählungen dieses Schriftstellers gibt es keinen Anfang und kein Ende. Man möchte ihnen immer weiter lauschen – und wenn man dieses Hörerlebnis nur ein einziges mal hatte, vernimmt man diese Stimme auch dann, wenn man Kurzecks Bücher zu Hand nimmt und darin liest. Probieren Sie es einfach einmal aus.

Titelbild

Peter Kurzeck: Kein Frühling.
Stroemfeld Verlag, Basel 2007.
590 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783878778578

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Titelbild

Peter Kurzeck: Kein Frühling.
Hörbuch.
Stroemfeld Verlag, Basel 2007.
24,00 EUR.
ISBN-13: 9783866000124

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Titelbild

Peter Kurzeck: Oktober und wer wir selbst sind. Gelesen vom Autor. 7 CDs.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
480 min, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783866000346

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