Der Vater des modernen Dramas

Bjørn Hemmer widmet sich dem Leben und Werk des norwegischen Dramatikers Henrik Ibsen

Von Susan MahmodyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Susan Mahmody

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Henrik Ibsen, geboren am 20. Mai 1828 in der Handelsstadt Skien an der norwegischen Südküste und am 23. Mai 1906 nach langer schwerer Krankheit in Kristiania (dem heutigen Oslo) gestorben, gilt als einer der größten Dramatiker der europäischen Literaturgeschichte und als Vater des modernen Dramas. Durch sein Werk, das 26 Dramen und eine Vielzahl an größtenteils eher unbekannten Gedichten umfasst, zieht sich die Kritik an der bourgeoisen Gesellschaft Norwegens im 19. Jahrhundert. Diesem Meister des naturalistischen Dramas widmet Bjørn Hemmer sein bereits 2003 erschienenes und jetzt in deutscher Übersetzung vorgelegtes „Ibsen. Handbuch“, das sich als Überblick über Ibsens Gesamtwerk versteht.

Dabei legt Hemmer keine klassische Biografie vor, die sich an Daten orientiert und die Ereignisse dahinter chronologisch wiedergibt, sondern geht vielmehr auf diverse prägende Episoden im Leben des Autors ein und kombiniert diese je nach Zusammenhang. Der außerliterarische Kontext mit geschichtlichen, politischen, sozialen und kulturellen Hintergründen findet dabei besondere Beachtung.

Hemmer konzentriert sich auf die dichterische Entwicklung Henrik Ibsens. Als Ausgangspunkt wählt er die Zeit zwischen 1864 und 1891, die Ibsen im Ausland verbrachte: Siebzehn Jahre in Deutschland (vor allem in Dresden und München) sowie zehn in Italien. In der Heimat war Ibsen nicht der erhoffte Erfolg beschert, der Schriftsteller wurde von seinen Landsleuten teilweise sogar verschmäht. Er kämpfte mit Schulden, Depressionen und Alkoholproblemen und entschloss sich schließlich im Jahre 1864, als sich die Chance eines Stipendiums ergab, nach Italien zu gehen, um sich dort selbst zu verwirklichen und endlich Erfolge feiern zu können.

Einen weiteren Schwerpunkt innerhalb seiner Betrachtung der Person Ibsens legt Hemmer bei dessen schonungslose Kritik am norwegischen Bürgertum des 19. Jahrhunderts. Kritik an der norwegischen Gesellschaft übte Ibsen schon immer, nach seinem langjährigen Aufenthalt in Italien verstärkte sich diese aber, wurde schärfer und offener. Ibsen lehnte vor allem das gesellschaftliche Verbot zur Selbstverwirklichung, die veralteten Sitten- und Moralvorstellungen sowie die vorgeheuchelte Religiosität breiter Teile der Bevölkerung ab. Seiner Ansicht nach waren die Existenzen dieser Menschen von der sogenannten Lebenslüge geprägt. Langsam aber sicher würde diese durch eine im Untergrund arbeitende Fäulnis freigelegt, wodurch die glänzende Fassade des Bürgertums letztendlich einstürzen und ihren wahren Charakter entlarven würde, glaubte der Autor.

Diese für die damalige Zeit radikalen und revolutionären Thesen entwickelte Ibsen unter dem Einfluss der Theorien von Charles Darwin und Sören Kierkegaard, die er in seinen Dramen zur Diskussion stellte und die somit Einzug in den öffentlichen Diskurs der zeitgenössischen norwegischen Gesellschaft fanden. Ibsen zeigte das Theater der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, das der dänische Kritiker und Schriftsteller Georg Brandes schon in seinen Vorlesungen und Schriften der frühen 1870er-Jahre gefordert hatte. Die Position des Autors zu verschiedenen Themen wie der Rolle der Kirche, individuelle Freiheit und Selbstbestimmung, Sittenkodex und Sexualmoral, Frauenrechten und so weiter bespricht Hemmer anhand der Werke Ibsens und stellt diese in den Kontext des zeitgenössischen Diskurses. Dabei wird deutlich, dass Ibsens Gesellschaftskritik mit der Zeit immer heftiger, wenn auch subtiler wurde. War diese anfänglich noch manifest und deutlich sichtbar auszumachen – wie in „Die Stützen der Gesellschaft“ (1877), „Ein Puppenheim“ (1879) oder „Ein Volksfeind“ (1882) –, wurde diese im Laufe der Zeit hintergründiger, etwa in „Gespenster“ (1881) oder auch „Die Wildente“ (1884), ehe sie letztlich vollends auf die psychologische, innermenschliche Situation der Protagonisten projiziert wurde – so in „Rosmersholm“ (1886), „Hedda Gabler“ (1890) und „John Gabriel Borkman“ (1896). Vor allem in seinen Gesellschaftsdramen drückte Ibsen seine Ablehnung und Empörung gegenüber der Gesellschaftslüge, Scheinheiligkeit und Feigheit aus. Diese Faktoren hemmten ihm zufolge die natürliche Entwicklung des Individuums: Der augenfälligste und stärkste Feind der Persönlichkeit sei die Gesellschaft mit ihren rigiden Gesetzen und Normen.

Doch nicht nur Ibsens Gesellschaftsdramen, die ihm zum internationalen Durchbruch verhelfen sollten, bespricht Hemmer ausführlich, sondern auch Werke mit nationalnorwegischen Inhalten aus den „Lehrjahren“ des Autors wie „Frau Inger auf Oestrot“ (1854) und „Die Helden auf Helgeland“ (1858) und die historischen Dramen, unter anderem „Catilina“ (1850), mit dem Ibsen unter dem Pseudonym Brynjolf Bjarme debütierte, „Die Kronprätendenten“ (1863) und „Kaiser und Galiläer“ (1873).

Hemmer geht der Rolle Ibsens für das naturalistische Drama nach und untersucht dessen Einfluss auf andere europäische Dichter – zum Beispiel den deutschen Naturalisten Gerhart Hauptmann – ebenso wie Ibsens Relevanz für die heutige Zeit, also die Aktualität seiner Thematik und die Rolle des Schauspielers in der Adaption seiner Werke. Somit kann die Stellung der Werke des Autors in der norwegischen und der europäischen Literaturgeschichte dargestellt werden.

Bjørn Hemmers „Ibsen. Handbuch“ präsentiert ein rundes Bild Henrik Ibsens, das dessen Leben, sein literarisches Schaffen sowie die Entstehungsgeschichte hinter seinen Werken, seine vielfältigen literarischen, philosophischen, kulturellen und politischen Einflüsse und die Rezeption seiner Texte gleichermaßen abdeckt. Da jedes Kapitel durch einen kurzen Abschnitt über den aktuellen Stand der Dinge in Ibsens Leben und einen kleinen Ausblick über die folgenden Ereignisse eingeleitet wird, kann jedes Kapitel auch separat gelesen werden.

Titelbild

Bjorn Hemmer: Ibsen. Handbuch.
Wilhelm Fink Verlag, München 2009.
532 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-13: 9783770544295

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