Eine Familie am Abgrund

Der amerikanische Schriftsteller Stewart O’Nan legt mit seinem Roman „Alle, alle lieben dich“ einen schockierenden Psychothriller vor

Von Thomas HummitzschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Hummitzsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn Eltern eines erspart bleiben sollte, dann ist es, das eigene Kind zu Grabe zu tragen. Denn kann jemals etwas größer sein als der Schmerz eines solchen Verlustes? Kann etwas bitterer sein, als die Lücke ertragen und mit der Stille umgehen zu müssen, die mit einem solchen Verlust eintritt?

Stewart O’Nan geht in seinem neuen Roman „Alle, alle lieben Dich“ diesen Fragen nach. Dabei lässt er den Leser lange im Ungewissen, ob überhaupt jemand ums Leben gekommen ist. Klar ist nur eines: Die siebzehnjährige Kim ist verschwunden. Ob sie einfach nur der für einen Teenager unerträglichen Idylle der heimatlichen Kleinstadt entflohen oder aber doch einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist, bleibt unklar. Weder für das eine, noch für das andere gibt es klare Anhaltspunkte. Zwar ist der gesamte Roman als Rückblick erzählt und lässt immer wieder ein Verbrechensszenario anklingen, doch eine Gewissheit über die Geschehnisse gibt es zu keinem Zeitpunkt.

Wenn aber eine Faustregel gilt, dann die, dass niemand auf ewig verschwunden bleibt. Erst recht nicht in Amerika, wo eine gigantische Medienmaschinerie losgetreten wird, wenn Kinder und Teenager verschwinden. Eine solche lösen auch Kims Eltern Ed und Fran aus, kaum dass ihre Tochter einen Tag verschwunden ist. Da die Polizei zunächst verhalten auf die Vermisstenanzeige reagiert, nehmen sie das Heft selbst in die Hand. Zunächst suchen beide nur mit Freunden und Nachbarn die Umgebung der Kleinstadt ab, hängen Kopien von Kims Suchanzeige in der ganzen Umgebung auf und fahren die täglichen Wege des Teenagers immer wieder ab – in der Hoffnung, auf ein Lebenszeichen von ihr zu stoßen. Schon bald haben sich auch sämtliche Radiostationen und Lokalzeitungen im Umkreis von einigen hundert Meilen in die Suche eingeschaltet. Internetforen werden eingebunden, Vermisstenhotlines mit den notwendigen Informationen versorgt, Selbsthilfevereine kontaktiert und eine Belohnung ausgesetzt. Gemeinsam mit Schulen, Kirchen und Sportvereinen initiieren sie Spenden-, Benefiz- und Gedenkveranstaltungen. Hobbydetektive aus dem ganzen Land schalten sich in die Suche ein. Schließlich schaffen es Ed und Fran, Kims Fall innerhalb der ersten Wochen in Amerikas wichtigster Fernsehshow für vermisste Personen zu platzieren. Der scheinbar ganz normale amerikanische Wahnsinn.

Doch mit ausbleibendem Erfolg richtet sich diese Suchmaschine gegen ihre Initiatoren. Sie können die Geister, die sie riefen, bald nicht mehr kontrollieren. Je länger ihre Tochter wegbleibt, desto mehr versuchen sie sich mit der Lücke zu arrangieren, die ihr Verschwinden in ihr Leben gerissen hat. Doch nach außen hin sind sie gezwungen, die unermüdlich kämpfende und hoffende Familie zu repräsentieren. Denn dringt ihre Müdigkeit erst einmal an die Öffentlichkeit, bedeutete dies das jähe Ende der groß angelegten Suche. Eine Herausforderung, die die Familie an die Grenzen ihrer Belastbarkeit bringt. Alles dreht sich nur um die Suche nach Kim um das Füllen der allgegenwärtigen Leerstelle. Die Bedürfnisse der Zurückgebliebenen müssen zunehmend hinter die Ansprüche eines Phantoms zurücktreten. O’Nan zeichnet mit seinem Roman über weite Strecken das Psychogramm einer Familie, deren Nerven wie Drahtseile gespannt sind.

Das Gleichgewicht der bisher eher unspektakulären Ehe von Kims Eltern gerät aus den Fugen, ihre zweite Tochter Lindsay – die ewig kleine Schwester – verlieren sie teilweise völlig aus den Augen. Diese begreift mit jedem Tag mehr, wie sehr sie im Schatten ihrer großen Schwester steht und immer stehen wird. Mit jeder Stunde, die die Eltern der Suche nach Kim opfern, steigt Lindsays Gefühl des Verlassenseins, Ungenügendseins und Unwichtigseins. Sie empfindet sich als diejenige, die an Stelle ihrer Schwester hätte verschwinden sollen.

Ed und Fran versuchen ihrerseits den geradezu unmöglichen Spagat des Füreinanderdaseins und Alleinseinwollens. Während er der andauernden Erfolglosigkeit der Suche erliegt und sich zurückzieht, trumpft sie in ihrer Rolle als Werbeikone der selbst inszenierten Suche nach der eigenen Tochter regelrecht auf. Nichts beweist dies besser als eine Anekdote während des Suchmarathons. Am Rande eines Baseballspiels sollen hunderte Luftballons als Zeichen der Hoffnung, Kim doch noch zu finden, in den Himmel aufsteigen. Als schon alle Zuschauer ihre Ballons fliegen lassen, hält Fran ihren noch fest. Und die Beobachter begreifen: „Wenn alle anderen Kim schon vergessen hatten, würde sie noch immer an sie denken, nach ihr suchen und weiter hoffen, da ihr nichts anderes übrigblieb. Sie war jetzt anders, getrennt von ihnen, und das würde immer so bleiben.“

Neben dem Innenleben von Kims Familie präsentiert O’Nan auch das verzweifelte Hadern ihrer engsten Freunde, das Leben ohne sie fortzusetzen. Die andauernde Abwesenheit und die gleichzeitige Hoffnung auf Wiederkehr werden zur biografischen Fessel. Nichts darf sich ändern, denn in der Konstanz liegt die Hoffnung. Nur wenn alles so bleibt, kann die Vergangenheit mit Kim wieder zur Gegenwart werden. Jede Veränderung des eigenen Lebens wäre ein Eingeständnis der Unwiederbringlichkeit von Kim, und niemand will damit der Erste sein.

O’Nan lässt den Leser auf einmalige Weise hautnah an dem Prozess der individuellen und gegenseitigen Entfremdung beiwohnen, während alles auf einen Abgrund zuläuft. Dabei erzählt er allerlei Alltägliches und Nebensächliches. Dies ist anfangs gewöhnungsbedürftig, entpuppt sich jedoch im Lauf des Romans als Besonderheit dieses Textes. Denn nichts ist mehr gewöhnlich, wenn es ständig darum gehen muss, sich von dem Schmerz des Verlustes abzulenken, von dem man weiß, ihn aber nicht wahrhaben will. Die auktoriale Erzählperspektive lässt den Leser in die traurig-düstere Gedankenwelt der einzelnen Personen eintauchen und unfreiwillig zum Beobachter und Analytiker der intimen Geschehnisse und ihrer Wirkungen auf das Familien- und Kleinstadtgefüge werden. So wohnt man dem unaufhaltsamen Abrutschen der Romanfiguren in ihr eigenes Elend bei.

Stewart O’Nans schriftstellerische Qualität ist es, seine Protagonisten psychologisch zu sezieren. Er ist ein Skalpellmeister der Literatur, der seine Figuren in Einzelteile zerlegt und von allen Seiten beleuchtet.Keine Facette entgeht ihm, kein Abgrund bleibt verdeckt, und so sind seine Romane von einer tiefen Menschlichkeit geprägt.Dafür erhielt er für seinen Erstlingsroman „Engel im Schnee“ 1993 den William-Faulkner-Preis.

„Alle, alle lieben Dich“ ist ein unter die Haut gehendes Dokument einer nervenaufreibenden Suche nach der endgültigen Aufklärung eines unausgesprochenen Verbrechens. Zuversicht und Verzweiflung wechseln sich ständig ab und erzwingen die Entwicklung einer erschreckenden, aber lebenserhaltenden Routine aller Betroffenen. Mit jeder haltlosen Nachricht über den Verbleib von Kim verschiebt sich das Ziel der Hoffnung aller Beteiligten. Aus der Sehnsucht, sie wohlbehalten wieder in die Arme zu schließen, wird der Wunsch, wenigstens ihre Leiche aufzufinden.

Nicht in Kims Tod, sondern in der Ungewissheit um ihr Schicksal und der Allgegenwart ihrer ungeklärten Abwesenheit, liegt das Unheimliche und Unerträgliche, das Trauern verhindert, auslaugt und handlungsunfähig macht.

Am Ende läuft alles darauf hinaus, die Unklarheit zu beseitigen. Dem Roman hätte es besser getan, sein Autor hätte die Situation in der Unklarheit gelassen. Die abschließende feierliche Stimmung wird dem Ausgang der Erzählung nicht gerecht, weil sie alle Verzweiflung, Angst und Trauer hinwegwischt, ohne dies erklären zu können. Das ist bedauerlich, denn es hinterlässt am Ende eines großen Romans viele Fragezeichen, die so gar nicht zu der nahezu chirurgischen Entzauberung der Welt zuvor passen will.

Titelbild

Stewart O´Nan: Alle, alle lieben dich. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Thomas Gunkel.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008.
410 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783498050382

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