Unter dem Einfluss des Saturn

Salvador Plascencias fulminanter Debütroman „Menschen aus Papier“

Von Nadine IhleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nadine Ihle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Blumenfelder, eine Frau aus Papier, ein Limonen essendes Mädchen, ein verlassener Ehemann, der zur Bekämpfung seiner Traurigkeit sich selbst verstümmelt und schließlich einen Bandenkrieg gegen den Planeten Saturn anführt: Der Debütroman „Menschen aus Papier“ von Salvador Plascencia schäumt geradezu über von skurrilen Einfällen. In der Tradition des magischen Realismus Lateinamerikas erfindet er mit seinem eigenen El Monte eine Welt, die im Innersten von Melancholie, Gläubigkeit, Familie und Liebe zusammengehalten wird. So wird alles haarscharf an der vertrauten Realität vorbei erzählt, und scheint weit genug weg zu sein, um die teilweise grotesken Marotten der Figuren erklärbar und zugleich erträglich zu machen.

Diese barock anmutende Fabulierlust Plascencias hätte alleine schon einen beachtenswerten Roman ergeben, aber dabei belässt es der 1976 geborene US-Amerikaner mexikanischer Herkunft nicht. Die Handlung verlässt immer wieder den ruhigen Fluss des konventionellen Erzählens. Plötzlich entstehen poetische Bruchstücke, oder die Erzählung wird in getrennten Spalten weitergeführt, wobei jede Vereinzelung an sich die Stimme einer Figur wiedergibt. Das multiperspektivische Erzählen stellt die Stimmen der Figuren in ihrer Innensicht nebeneinander, teilweise auch gegeneinander. So ergeben sich zahlreiche Verästelungen, Figuren treten auf und wieder ab, die Perspektive springt von den eigentlichen Hauptfiguren zu blumenzüchtenden Hollywoodstars und heiligen Wrestlern. Schließlich tritt der Autor selbst als Figur in Erscheinung, seine Figuren wiederum treten mit ihm in Dialog. So wirft zum Beispiel seine Ex-Freundin ihm eine weinerliche, kindische Darstellung ihrer gescheiterten Beziehung vor, beschwert sich, wie verzerrend er über ihre Liebe berichtet und bittet ihn, die Erzählung noch einmal von vorne zu beginnen. Prompt erscheint der Innentitel noch ein zweites Mal mitten im Buch, diesmal ohne Widmung an die Freundin. Von Einfällen dieser Art ist das gesamte Buch durchzogen – Plascencia erzählt nicht nur, sondern er gestaltet seine Geschichte, Buchstabe für Buchstabe, Seite für Seite, Figur für Figur.

Natürlich ist das Schreiben in Spalten, mit verdrehten Textblöcken und grafischen Gestaltungselementen nichts Neues. Für den deutschen Sprachraum sei hier an Arno Schmidt oder Marianne Fritz erinnert. Aber auffällig ist doch, dass das, was bei jenen noch literarische Avantgarde war, nun zumindest im anglo-amerikanischen Sprachraum Einzug hält in die Mainstream-Literatur. Ob es nun die aus Buchstaben zusammengesetzten „Gedankenhaie“ von Stephen Hall sind oder die Wortgebäude im „House of Leaves“ von Mark Z. Danielewski – die „Menschen aus Papier“, bereits 2005 unter dem Titel „The People of Paper“ erschienen, passen ebenfalls ins diese Entwicklung.

Gemeinsam ist ihnen eines: sie gehen über Metafiktionen im Sinne einer Autoren-Figuren-Interaktion weit hinaus. Eigentlich betreiben sie eine neue Form von Metafiktion. Der Lesende wird zu einem Verbündeten, zu einem dritten Bezugspunkt in einer ohnehin schon verschachtelten Fiktion. Die Grenzen zwischen fiktionaler Erzählebene und außerfiktionaler Realität lösen sich fließend dabei auf. Während es bei den Anderen meist beim Verschwimmen der Grenzen bleibt, schafft Plascencia es, diese Grenze nahezu vollständig zu überwinden. Das Buch an sich wird zum Gegenstand der Erzählung, der Leser zum Teilnehmer der Handlung.

So wenig machbar das auch zu sein scheint, in den „Menschen aus Papier“ funktioniert es. Der Leser selbst ist am Ende ein Mensch aus Papier, die Schlacht gegen Saturn geschlagen und die Figuren wieder unter die Herrschaft ihres Autoren und der wiederum unter die des Lesenden gestellt. Was dieses Buch von Plascencia so äußerst bemerkens- und lesenswert macht, ist die Kombination von all dem: überschäumende Sprachlust, komplexe Metafiktionen und eine anmutig schlichte Kerngeschichte über Liebeskummer. Männlichen Liebeskummer wohl gemerkt, Frauen kommen in diesem Roman als Kinder, Projektionen, Scheiternde und Verlassende vor. Allein einer einzigen weiblichen Figur sind so etwas wie fürsorgliche Gefühle zugeschrieben, diese entstehen aber eher aus ihrer Rolle im sozialen Gefüge der Charaktere als aus sich selbst heraus.

Ebenso wenig wie man sich die Edition von „Zettel’s Traum“ auf einem digitalen Lesegerät in Taschenbuchformat sinnvoll vorstellen kann, scheint eine mediale Übertragung der „Menschen aus Papier“ machbar. Im Fall von Plascencias Erstling wäre es thematisch geradezu absurd, diese Geschichte nicht auf Papier, sondern mittels eines Readers zu lesen. Vielleicht ist diese neue Art des Meta-Erzählens eine Möglichkeit, das Buch als solches gegen seinen derzeit vielbeschworenen Untergang zu sichern. So ist es nicht verwunderlich, dass gerade in den letzten Jahren Bücher wie Gesamtkunstwerke geschrieben werden, Textgestalten, die sich ohne Bedeutungsverlust nicht einfach beliebig digitalisieren lassen. Mögen vielleicht die taschenbuchformatigen Massenwaren von den Büchertischen in die digitalen Lesegeräte verschwinden, das Buch als eine solche Kunstform kann ganz unbehelligt daneben weiterexistieren. Und wenn diese Erzählformen so außergewöhnliche Kunstwerke hervorbringen wie die „Menschen aus Papier“, dann ist ihr papierenes Überdauern ganz sicher.

Titelbild

Salvador Plascencia: Menschen aus Papier. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Conny Lösch.
Edition Nautilus, Hamburg 2009.
243 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783894015879

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