Heranwachsend

Ioana Nicolaie thematisiert in „Der Norden“ eine Mädchenkindheit

Von Anke PfeiferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anke Pfeifer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 

Der Titel „Der Norden“ assoziiert Kühle, ja Kälte. Diese Gedankenverknüpfung unterstreicht auch das Buchcover, das ein Porträtfoto der Dichterin ziert, deren Haar und schwarze Mütze mit Schnee bestäubt sind. Zwar ist die Lyrikerin tatsächlich im Norden geboren und aufgewachsen, aber es ist der Norden Rumäniens – ganz in der Mitte Europas. Von dieser geographischen Heimat handeln die Gedichte auch. Eher ist es eine emotionale Frostigkeit, die über dem Werk liegt. Gefühle wie Angst, Entsetzen, Trübseligkeit, Gleichförmigkeit und Verlassenheit sind vorherrschend.

Der Band enthält 53 Gedichte, die überwiegend Ein-Wort-Titel tragen, wie „Teer“, „Belauert“, „Damals“ oder „Schämen“. Die meisten der Gedichte haben einen Umfang von ein bis zwei Seiten, lediglich „Rückkehr“ umfasst 18 Seiten und integriert auch Prosapassagen.

Die Gedichte von Ioana Nicolaie zeichnen sich durch eine hohe Ich-Bezogenheit aus. Geboren 1974, ist sie eine Vertreterin jener Generation, die in den 1990er-Jahren debütierte und sich bevorzugt mit dem eigenen Leben, dessen Alltäglichkeiten und ebenso mit traumatischen Erfahrungen künstlerisch auseinandersetzt. In der den Gedichten vorangestellten Widmung erscheinen namentlich neben den Eltern auch alle ihre zehn Geschwister, die in den Poemen Erwähnung finden.

Nicolaie zeichnet die Entwicklung eines Mädchens bis ins junge Erwachsenenalter nach und greift dabei bis auf die Zeit vor ihrer Geburt zurück. Die Lektüre hinterlässt beim Leser einen bedrückenden Eindruck. Ioana Nicolaie präsentiert eine wenig glückliche Kindheit. Immer wieder wird die Mutter ungewollt schwanger, ist von der Arbeit überlastet. Das Ich in den Gedichten fühlt sich ungeliebt und einsam. Schon das Leben des Kindes ist angefüllt mit Arbeit, sei es bei der Beaufsichtigung der jüngeren Geschwister, deren Aufzucht trotz Liebe strapaziös ist, oder bei der Mithilfe in Haus und Garten. Die Rede ist von Armut, Hunger und unerfüllten kindlichen Wünschen. In der Schule scheint das lyrische Ich Außenseiterin zu sein, findet sich hässlich und von anderen beleidigt. Daraus entwickelt sich eine große Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, die die erwachsen Gewordene in der Rückschau dann doch in einzelnen Momenten entdecken kann, etwa dann, wenn der Vater über alles wacht. Nur das lange Gedicht „Rückkehr“ lässt so etwas wie Harmonie und Einssein mit dem Vater oder der Großmutter spüren.

Protokolliert wird die körperliche Entwicklung vom Mädchen zur Frau. Zunächst noch wie ihre Brüder knabenhafter Gestalt und in Hosen gekleidet, fühlt sie sich eher geschlechtslos („die schiefen Knäule der Brüste; die kleben nachts schmerzend; auf deinem rechten Brustbein; du Jungenmädchen“), später als Mädchenmädchen.

Ioana Nicolaie versucht, weiblichem Denken und Gefühlen Ausdruck zu verleihen, besteht dabei auf Authentizität und Übertragung der Wahrheit ins Ästhetische. Sie veröffentlichte in Rumänien seit 2000 unter anderem vier Lyrikbände sowie einen Roman und wird zu den wichtigsten jungen Stimmen der Gegenwartliteratur ihres Landes gezählt. Eva Ruth Wemme hat dazu stimmige Nachdichtungen geschaffen.

Titelbild

Ioana Nicolaie: Der Norden. Gedichte.
Übersetzt aus dem Rumänischen von Eva Ruth Wemme.
Pop Verlag, Ludwigsburg 2008.
122 Seiten, 16,30 EUR.
ISBN-13: 9783937139432

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