Er-Öffnungen und Verschleierungen

Jean Luc Nancy dekonstruiert das Christentum

Von Daniel WeidnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Weidner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einem der Aufsätze aus dem vorliegenden Band greift Jean Luc Nancy eine Formulierung Theodor Adornos auf, die Musik Arnold Schönbergs sei ein „entmythologisiertes Gebet“. Wie könne man, so Nancy, ein solches „reines“ Gebet denken, ein Gebet ohne einen bestimmten Inhalt, das sich nicht an ein bestimmtes Dogma oder eine Form bindet. Solche Fragen umschreiben die Aufgabe der Dekonstruktion des Christentums als „Annäherung an einen Rest oder eine ,Reliquie‘, die vom religiösen Bau abgelöst ist, aufgeschlossen, und unmöglich dort wieder einzusetzen. Doch sie enthält oder bewirkt eine Forderung, die sich nicht verabschieden lässt“. Nicht um eine religiöse Philosophie und nicht um eine Philosophie der Religion geht es Nancy, sondern um die Frage, was es philosophisch bedeutet, dass Europa christlich gewesen ist. Was bleibt vom Christentum, und welche Aufgaben stellt das an das Denken? Wie verbindet sich das Ende der Metaphysik, das mit dem Namen der Dekonstruktion verbunden ist, mit dem des Christentums. Die Gesten und Gebärden im Raum dieser Fragen – denn ein reines Gebet ist nichts weiter als die Geste der Anbetung – sind der Gegenstand von Nancys Buch.

Aktualität und Ausschluss der Religionen

Für Nancy ist die in den letzten Jahren beschworene Rückkehr der Religionen nur Anlass des Denkens. Sicher, sie zeige, dass das Selbstverständnis des Denkens problematisch sei, dass man die Frage nach der Säkularisierung neu stellen müsse und dass die Moderne gerade im Moment ihrer Globalisierung Gefahr laufe, zur bloßen Herrschaft von Technik und Ökonomie zu werden. Die Krise der Demokratie zwinge dazu, die Frage der Zivilreligion neu zu denken, und die Übereinstimmung von Atheismus mit dem Individualismus und Kapitalismus gebe zu denken, heißt es einmal. Aber als Gegenwartsdiagnostik gelesen, blieben solche Andeutungen vage und abstrakt. Nancys Stärken liegen woanders: Dort, wo er philosophische Kategorien befragt und reflektiert, wie die Religion in der europäischen Tradition und in der Moderne gedacht worden ist oder genauer: nicht gedacht worden ist. Denn wenn sich seit Immanuel Kant die moderne Philosophie durch ihre Unterscheidung von der Metaphysik und insbesondere von der Theologie definiert, so stellt Nancy die Frage, ob sich das Denken damit nicht selbst eingeschüchtert habe.

„Déclosion“, („Entschließung“) war der Titel des Französischen Originals: Eine Entschließung, die auf die Öffnung der Vernunft hin zielt, aber vor allem auf die Revision jenes philosophiegeschichtlich so wichtigen Ausschlusses der Religion und des Christentums. Sie ist zugleich auch eine Entfaltung (éclosion) dessen, was Christentum für die Philosophie sein könnte, ohne dass diese deswegen eine christliche Philosophie sein müsste. Sie ist schließlich auch eine Entfaltung von Nancys Denkweg der letzten zehn Jahre. Zwischen einem 1995 gehaltenen Vortrag über die Dekonstruktion des Christentums, der gewissermaßen das Programm der gesamten Denkbewegung enthält und den 2005 entstandenen Arbeiten über Monotheismus und Atheismus und über die Dekonstruktion des Monotheismus liegt eine ganze Reihe von Texten, die sich unter anderem mit Kant, Martin Heidegger, Maurice Blanchot, Roland Barthes und immer wieder mit Jaques Derrida auseinandersetzen. Nancy argumentiert im Zeichen der Metaphysikkritik, die er auf die Religion anwendet. Aber, und das macht die Aufsätze so wichtig, er weigert sich doch, in der Religion nur eine Unterart der Metaphysik zu sehen, wie das Heidegger mit der Begriffsprägung einer „Ontotheologie“ in für das ganze zwanzigste Jahrhundert bestimmenden Weise tat. Nancy weiß und deutet dies auch an, dass die Ermächtigung der Philosophie bei Heidegger um so paradoxer ist, als sie im selben Moment erfolgt, in dem Heidegger massiv auf die religiöse Tradition rekurrierte – auf Paulus, Martin Luther und Søren Kierkegaard. Implizit durchläuft das Buch daher auch eine Kritik der Metaphysikkritik, in der sich die Religionsvergessenheit der modernen Philosophie fortsetzt.

Christliches Dekonstruieren

Auch der Titel einer „Dekonstruktion des Christentums“ hat einen gewissen provokatorischen Wert, denn zumindest für die Dekonstruktion alter Schule war das Christentum eben nur Ontotheologie, eine Art Platonismus für das Volk und daher ein der Dekonstruktion kaum würdiger Gegenstand. Demgegenüber besteht Nancy nicht nur darauf, dass eine Dekonstruktion des Christentums im eigentlichen Sinne noch ausstehe: Dass das Selbstverständliche hier hinterfragt werden muss und man die verschiedenen Elemente unterscheiden muss, deren Verbindung das Christentum ausmacht. So dekonstruiert Nancy die Gegenüberstellung von Jüdischem und Griechischem, die so oft als ,reine‘ Quellen des Okzidents betrachtet worden sind und die etwa in der Rezeption Heideggers zu einer ,orthodoxen‘ Beschäftigung mit dem Griechischen und einem ,heterodoxen‘ Denken des Jüdischen geführt hat. Verdecken diese zwei Reinheiten, so fragt Nancy, nicht eigentlich das Christliche, das gerade aus dem Denken ausgeschlossen werden soll? Und das eben nicht mehr als Reinheit, als Ursprung und Prinzip gedacht werden kann, sondern einer Ontologie des Bindestrichs (etwa im ,Jüdisch-Christlichen‘) oder der Zusammensetzung (,Jesus Christus‘) bedarf.

Gerade dieses Moment des Zwischen zeigt aber für Nancy darüber hinaus, dass das Christentum nicht einfach nur Gegenstand der Dekonstruktion ist, sondern dass es präziser selbst die Dekonstruktion ist, weil es eben nicht auf stabilen Grundlagen und Prinzipien beruht, sondern diese untergräbt: „Die Geste der Dekonstruktion als weder kritischer noch perpetuierender Geste ist eben nur im Innern des Christentums möglich“. Das Christentum, die Religion des toten Gottes, hat immer schon das Ende der Ideologien und Gewissheiten präfiguriert. Es ist deshalb immanenter Atheismus, es zielt auf das Offene, indem es das Gegebene aller Gegebenheit entzieht. Die Dekonstruktion des Christentums ist also im doppelten Genitiv zu verstehen, sie setzt das Christentum frei ins Offene und raubt der Dekonstruktion den Hochmut, die einzige entwickelte Kritik zu sein.

Verschwiegene Theologie

Das Christentum als letzte Religion, als Religion, die nicht mehr Religion ist – solche Denkfiguren sind nicht neu, und sie werden gerade die Theologen unter den Lesern Nancys kaum überraschen. Sie gehören zum Kernbestand der Dialektischen Theologie der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Aber Nancy benennt sie nicht als solche. So entwirft er an verschiedenen Stellen Ansätze einer (postmetaphysischen) Phänomenologie des Christentums; sie kreist etwa um die Christologie (als Dekonstruktion des ousia-Gedankens), um die Sünde als Schuldhaftigkeit, um den lebendigen Gott als das Offene schlechthin und vor allem um den Glauben (foi), der in seiner Akthaftigkeit streng von der ,Gläubigkeit‘ (croyance) zu unterscheiden sei. Da läge es nahe, nicht nur auf die traditionelle Terminologie fides qua creditur und fides quae creditur einzugehen, sondern auch auf Rudolf Bultmanns im Anschluss an Heidegger entwickelt existenzialanalytische Reformulierung des Glaubensbegriffes. Aber Nancy berührt solche Diskurse allenfalls im Vorübergehen und bewegt sich fast ausschließlich im philosophischen Fahrwasser. Das ist schade, und zwar nicht nur, weil sie Nancys Argumente einen Anschein von Originalität geben, sondern weil sie beim theologisch gebildeten Leser den Eindruck hinterlassen, hier werde nur alter Wein in neue Schläuche gegossen, während für den Laien Wein und Schläuche gleichen Ursprungs zu sein scheinen, so dass er nur staunen, aber nicht verstehen kann.

Der philosophische Anspruch des Buchs zieht dann wohl auch eine andere Unwucht von Nancys Projekt nach sich, dass sich von der anfänglichen Dekonstruktion des Christentums zu der des Monotheismus ausgeweitet hat, vom Besonderen zum Allgemeinen. Denn in den späteren Aufsätzen kündigt Nancy immer wieder an, um die „Komposition“, die besondere Zusammensetzung des Christentums zu verstehen, müsse man auch die der anderen Monotheismen, des Judentums und des Islam verstehen. Aber das bleibt vollständig uneingelöst. Denn während christliche Denkfiguren umfassend präsent sind – die Kenosis (die Herablassung Gottes im Kreuz), die Christologie, der Glaube – kommt das Jüdische allenfalls indirekt als das jüdisch-christliche vor, und um Islam scheint Nancy gar nichts mehr einzufallen: Weder die Idee einer gerechten Gesellschaft, die einer mystischen Gotteserfahrung noch die der ,Schönheit‘ des Korans werden auch nur erwähnt. Die Ausweitung vom Christentum zum Monotheismus bleibt damit weitgehend eine gut gemeinte Leerformel, seine eigentliche Substanz hat das Projekt in der Dekonstruktion des Christentums.

Gesten des Denkens

Unter Dekonstruktion kann man heute verschiedenes verstehen: Die genaueste Lektüre von Texten und die Freilegung von Sinnschichten unter ihrer scheinbaren Homogenität, und das Projekt der Metaphysikkritik, das zu einer Art negativer Ontologie führt, einer Kritik jeglicher Wesensaussagen. Nancy tut beides: Er entwickelte eine postmetaphysische Begrifflichkeit und Phänomenologie der Religion, und er liest philosophische Texte, selten auch einmal religiöse wie den Jakobusbrief, den er als eine Art verschlüsselte Adresse an einen anderen Jakob, Jacques Derrida, interpretiert.

Die Argumentation in diesen Lektüren und Versuchen ist kreisend, oft indirekt. Zum Glück ist die Übersetzung, anders als man es oft von französischer Theorie gewohnt ist, um Klarheit und Deutlichkeit bemüht, aber die Lektüre führt doch oft im Kreis, und erst nach einiger Gewöhnung merkt man, dass die großen Erwartungen, welche die scheinbar programmatischen Aufsätze des Rahmens hervorrufen, jedenfalls so direkt nicht eingelöst werden: Große Thesen und Argumente über ,das Christentum‘ wird man hier nicht leicht finden.

Aber es handelt sich doch um mehr als um ein bloßes Rauschen, um mehr als um bloßes Spiel mit religiöser Metaphorik. Zumindest an manchen Stellen wird Nancy regelrecht prägnant, und zwar interessanter Weise dort, wo er die beiden Spielarten der Dekonstruktion verbindet, wenn Lektüre und Metaphysikkritik in eins gehen. So beginnt etwa ein Aufsatz mit der Frage, wie man Heideggers Rede vom ,Wink‘ des letzten Gottes übersetzen könne und zeigt, dass diese Übersetzung genauso ephemer und indirekt sein muss (sie kann letztlich nur einen ,Wink‘ geben) wie der Wink selbst. So entsteht eine Phänomenologie des ,Winks‘ und des ,Augenblicks‘ als nicht feststellbarer Geste, als ,souveräne Gebärde‘, und von dieser Phänomenologie aus wird wiederum verständlich, was jener letzte Gott sein mag: weniger ein Wort oder Begriff als ein Name. Weniger das höchste Seiende oder das Sein als vielmehr ein Vorübergehen. So wird auch der rettende Gott, der in Heideggers späten Äußerungen umgeht, als eine denkerische Gebärde lesbar. Und an solchen Gesten wird das Programm der Ent-Schließung des Denkens sehr viel konkreter als in der raunenden Rede von der Öffnung, dem Offenen und der Öffnung des Offenen, die sich auch bei Nancy nicht selten findet. An ihnen zeigt sich, dass Religion für die Philosophie nicht nur ein Modethema und nicht nur ein neu erhobener vornehmer Ton ist, sondern sie immer schon beunruhigt hat. Um ihretwillen lohnen sich dann auch die nicht unbeträchtlichen Mühen, Nancys Werk zu lesen.

Titelbild

Jean-Luc Nancy: Dekonstruktion des Christentums.
Übersetzt aus dem Französischen von Esther von der Osten.
Diaphanes Verlag, Berlin 2008.
277 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783037340103

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