Interdisziplinärer Weitblick

Anne-Kathrin Reulecke hat den Sammelband „Von null bis unendlich“ über literarische Inszenierungen naturwissenschaftlichen Wissens herausgegeben

Von Alexandra CampanaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Campana

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„± Gott ist der kürzeste Weg von Null bis Unendlich“, heißt es in Alfred Jarrys Roman „Ansichten und Heldentaten des Doktor Faustroll, Pataphysiker“ (um 1900), dem der vorliegende Band seinen Titel verdankt. Hervorgegangen ist das Resultat denn auch aus genau dieser Disziplin des Protagonisten, der Pataphysik, die als „Wissenschaft imaginärer Lösungen“ die Dichotomie zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften in nichts auflöst – da eben, so Constanze Baum, imaginär alles möglich sei, was vorstellbar ist. Bereits der Apostroph am Wortanfang verweise als linguistischer Stolperstein auf diese offenkundigen Normabweichungen, denen sich die Pataphysik verschrieben habe.

Wenn also in der Folge permanenter Infragestellungen die unausweichliche Gretchenfrage nach Gott mit einer mathematischen Entschiedenheit schließlich beantwortet wird, sei auch dies nur ein Scheinschluss, zumal in der von Jarry präsentierten „verkehrten Welt, deren Axiome man nur umzudrehen bräuchte, um wieder Normalität herzustellen“, eine angenommene Berechenbarkeit Gottes lediglich dessen Unfassbarkeit bestätige. Baum sieht in dieser Welt Jarrys das Prinzip der Moderne umgesetzt, das auf einem Verlust von Eindeutigkeiten basiert: Jede Realität werde aufgelöst in eine Möglichkeitsform und eine Festlegung auf Tatsachen sei nur noch „im jeweiligen Bezugssystem denkbar und nie allgemein gültig“. Aus dem fact wird demnach eine fiction im weitesten Sinn, und die Korrespondenzen zwischen Wissenschaft und Literatur treten deutlich hervor.

Semiotropie als Grundlage

Diese Korrespondenzen stehen im Fokus des Sammelbands, der aus einer Ringvorlesung des Wintersemesters 2006/07 am Institut für Literaturwissenschaft der Technischen Universität Berlin hervorgegangen ist. In ihrer Einleitung greift die Herausgeberin Anne-Kathrin Reulecke auf Roland Barthes zurück, der seinerseits bereits den Zusammenhang zwischen Literatur und Wissen unterstrichen hat (sehr eindeutig etwa während seiner Antrittsvorlesung am Collège de France, 1977). Damit habe er der seit dem 18. Jahrhundert zunehmenden Ausdifferenzierung der Wissenschaften dahingehend widersprochen, dass er für ein Produktivmachen der Gegensätze zwischen den „zwei Kulturen“ plädiert habe.

Grundlegend für die hier versammelten Aufsätze ist nun vor allem Barthes‘ Konzept der Semiotropie. Diese „Wissenschaft von der Wendung und Wirkung der Zeichen“ ist insofern doppelt ausgerichtet, als sie zum einen die „Verflechtungen literarischer Werke mit den Epistemen ihrer Epoche“ beleuchtet, zum anderen jedoch auch die als nicht-literarisch eingestuften Systeme einer philologischen Analyse unterzieht. Indem die Literatur in ihrer spezifischen Wissenshaltigkeit also das Wissen nicht einfach kumuliere, sondern auch die Bedingungen dieses Wissens jeweils mit thematisiere, beleuchte sie zugleich die „Inszeniertheit jeder Wissenschaft“. Dementsprechend gehe es in den hier versammelten Aufsätzen unter anderem darum zu untersuchen, wie sich literarische Werke den naturwissenschaftlichen Disziplinen annähern und deren Gesetze „in Szene setzen“.

Vermittlungsinstanz ‚Literatur‘

Im Gespräch mit Reulecke betont Thomas Lehr, der selbst Biochemie studiert hat, bezüglich seines Romans „42“ (2005), insbesondere die Vermittlungsaufgabe der Literatur, die zur Basis seiner Kunstauffassung wird. Die im Text entworfene Szenerie um eine Zeitkatastrophe in der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN) wird einerseits auf „individualpsychologische und soziologische Konsequenzen hin durchgespielt“, andererseits möchte Lehr der Öffentlichkeit auch einen Diskurs zugänglich machen, der normalerweise nur einem spezialisierten Kreis von naturwissenschaftlich orientierten Experten zugänglich sei: „Was also ist, verflucht noch mal, die Zeit?“ Das Hochhypothetische des Romans werde dabei von der Anschaulichkeit seiner Beschreibung kontrastiert. Vergleichbares stellt Reulecke auch in Bezug auf Carl Djerassi fest, der als ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der Biochemie – als Erfinder der Synthese des Stoffs ‚19-Nor-17Alpha-ethinyl-testosteron‘, besser bekannt als Anti-Baby-Pille – ebenfalls in Literatur verpackte naturwissenschaftliche Informationen im Bewusstsein eines breiteren Rezipientenkreises verankern möchte.

„Science-in-Fiction“ nennt Djerassi dieses Genre und grenzt seinen Roman „Cantors Dilemma“ (1989) damit von einer fantastischen Literatur à la Jules Verne klar ab. Letzterem sei es nämlich vor allem um ein Zusammenspiel „zwischen Kalkulation und Imagination“ gegangen, was Roman Lach anhand des Mondromans „De la Terre à la Lune“ (1865) expliziert. Der Wahrscheinlichkeit sollten neue Bereiche geöffnet werden und Lach vermutet, dass Vernes eigentliches Experiment die Frage gewesen sei, unter welchen Bedingungen der Widerspruch zwischen Physik und Fantasie zur Synthese gebracht werden könne. Anders Djerassi. Ihm geht es nach Reulecke vor allem darum, mit den Mitteln der Fiktionalisierung „ein exaktes Bild der gegenwärtigen Welt der Naturwissenschaften zu zeichnen“, womit sich auch die Absicht verbinde, die Mythenbildung um die glorifizierungsanfällige Forscherpersönlichkeit zu unterminieren.

Nähe zwischen den „zwei Kulturen“

Gemeinhin gilt die Fiktion als aus dem Bereich der objektiven Wissenschaften ausgeschlossen. Dies ist das Ergebnis einer „Diskriminierungsgeschichte“, deren Anfänge Sigrid Weigel im christlichen Gegensatz zwischen fictio und veritas, ebenso wie in der Gleichsetzung der Fiktion mit heidnischer Kultur im Rahmen der Cartesianischen Philosophie ausmacht. Zugleich betont Weigel aber auch, dass Fiktion und Einbildungskraft zu den Voraussetzungen wissenschaftlicher Neugier und innovativer Lösungsansätze gehören, wie es das physikalische Gedankenexperiment verdeutliche. Ein illustratives Beispiel für diese Nähe zwischen Fiktion und Wissenschaft liefere etwa Heinrich von Kleist, der im „Findling“ (1811) ein literarisches Gedankenexperiment entwerfe, in dem sich Fiktion und Wissenschaft dergestalt begegnen, dass zeitgenössische physikalische Theoreme auf das fiktive Personal angewendet werden. Damit spiele Kleist die Frage durch, „was aus neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen wird, wenn sie ihren Sitz im Leben der Subjekte einnehmen“.

Ebenfalls thematisiert wird die Nähe zwischen Fiktion und Naturwissenschaft im Hinblick etwa auf Robert Scotts Südpolwanderung, wenn der Forschungsbericht zur Heldenerzählung wird: Die Wissenschaft im Eis kann nur unter Einsatz des Wissenschaftlerlebens geschehen und Scotts Tagebuch, stets am Gürtel mitgetragen, wird zum Symbol des heroisch imaginierten Forschers (Cornelia Ortlieb). Auch der Blick auf die poetologischen Herausforderungen, die sich zum Beispiel Alexander von Humboldt stellten, bleibt nicht ausgespart (Stephan Braese). Denn Humboldt wollte zwar literarische Reisebeschreibungen verfassen, deren wissenschaftlicher Wert sollte aber durch ihre Literarizität nicht herabgesetzt werden.

Zurück zu den Anfängen

Wenn Gottfried von Straßburg im „Tristan“ in Zusammenhang mit Evas Verschulden des Sündenfalls den Ausdruck ‚g’êvet‘ erfindet, wird damit nach Jens Pfeiffer eine Disposition angesprochen, „durch die alle Frauen ‚nach der Êve g’êvet sint‘“. Berührt sei damit ein hochkomplexer Diskurs über die Frage, was Frauen und Männer über ihre primären und sekundären Geschlechtsmerkmale hinaus voneinander unterscheide – was schließlich eine naturwissenschaftlich begründete und literarisch verarbeitete Misogynie offenlegt.

Auch in „Wilhelm Meisters Wanderjahren“ (1795/96) sei ein Bezug zu den Anfängen der Naturwissenschaften gezogen, unter anderem weil die Figur der Gesteinsfühlerin, so Carsten Rohde, klar in der Tradition einer vormodern-hermetischen Wissenstradition steht. Dass sie dennoch der Ausbeutung der Naturschätze zuarbeitet, verdeutliche die Ambivalenz des Romans, der älteren Wissensformen zwar Raum gewähre, aber auch den veränderten Umgang mit der Natur im industriellen Zeitalter ernst nehme. Thematisiert werden in den „Wanderjahren“ vor allem die naturwissenschaftlichen Bereiche der Geologie, Astronomie und Medizin, was Rohde – in Anlehnung an Hartmut Böhme – als „säkularisierte Form von Trinität“ einstuft: Erde, Universum und Mensch seien angesprochen und eben genau darin zeige sich die grundlegende Idee der Goethe’schen Naturforschungen: dass alles mit allem zusammenhänge, und der Mensch eben nicht nur als Beherrscher der Natur auftrete, sondern auch lebendig verwoben sei in ihre Gesamtheit.

Nach diesem Gesamtzusammenhang wird auch in den „Deliciae mathematicae“ (1636-1653) von Daniel Schwenter und Georg Philipp Harsdörffer gesucht, wie Martin Disselkamp erläutert. Denn vor allem die von Harsdörffer herausgegebenen Bände wollten, angelegt als eine Kompilation naturkundlicher Aufgaben, auf eine höhere Ordnung der Schöpfung hinweisen. In diesem Sinn merke Harsdörffer schließlich auch an, dass die Musen den Poeten zufolge auf dem Parnass zu tanzen pflegten, um zu verdeutlichen, „dass alle Künste und Wissenschafften mit fortgesetzter Arbeit einander die Hände bieten / wie in den Reyendäntzen zu geschehen pfleget / und eine liebliche vollkommen-runde Zusammenstimmung schließen“.

Das große Ganze

Wenn im Titel des Bands implizit die Frage nach Gott anklingt, wird der Anspruch deutlich, eben diese „vollkommen-runde Zusammenschließung“ zum Thema zu machen. Dies gelingt den Aufsätzen in ihrer je eigenen Art sehr wohl, wenn auch die Feststellung, dass Literatur insgesamt über sich selbst und ihre (vermeintlichen) Disziplingrenzen hinaus weist, nicht neu ist. Und auch dieser Beitrag zum Dialog der „zwei Kulturen“ bleibt letztlich – trotz interdisziplinärem Weitblick – an die Perspektive der geisteswissenschaftlichen Kultur gebunden. Dies jedoch geschieht auf sehr instruktive Weise. Nicht zuletzt dann, wenn Friederike Felicitas Günther in ihrem Aufsatz zum Thema macht, wie der russische Dichter Ossip Mandelstam in seinem Essay „Gespräch über Dante“ (1933) die Quantentheorie zum hermeneutischen Paradigma erhebt.

Indem Mandelstam die Poesie als Materie begreife, betone er insbesondere das Unvorhersehbare poetischer Dynamik, was in quantentheoretischen Anleihen eine naturwissenschaftliche Entsprechung finde. Das Wort werde ihm so zu einem Strahlenbündel, „das in alle möglichen Richtungen ausstrahlt und so viele Bedeutungen umfasst, dass sich eine flimmernde Bewegung als ‚Sinn‘ ergibt“. Der Dante-Kommentar der Zukunft sehe sich denn auch mit eben jenem Dualismus konfrontiert, der einst die Physik revolutionierte – und der wiederum den Bogen zur Grundrichtung des Sammelbands insgesamt spannt: „Die literarische Zeit ist Auflösung und Formung, Schwindel und Stillstand, sie ist Welle und Teilchen.“

Titelbild

Anne-Kathrin Reulecke (Hg.): Von null bis unendlich. Literarische Inszenierungen naturwissenschaftlichen Wissens.
Böhlau Verlag, Köln 2008.
240 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783412201449

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