Familie im Fokus

Eva Labouvie und Ramona Myrrhe bündeln Beiträge zum Mikrokosmos von Familie und Verwandtschaft

Von Susan MahmodyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Susan Mahmody

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Komplex ‚Familie‘ hat sich erst in den 1970er-Jahren als Forschungsgegenstand etabliert. Im Zuge der Entwicklung sozialwissenschaftlicher und sozialhistorischer, später kulturwissenschaftlicher, historisch-anthropologischer und medizinethischer Theorien und Methoden rückte Familie und Verwandtschaft in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses. Mittlerweile ist die Familienforschung ein interdisziplinärer Wissenschaftsbereich, der in den Geistes-, Kultur-, Sozial- und Erziehungswissenschaften zu finden ist.

Diesen vielfältigen Ansatzpunkt greift der von Eva Labouvie und Ramona Myrrhe herausgegebene Sammelband „Familienbande – Familienschande. Geschlechterverhältnisse in Familie und Verwandtschaft“ auf. Familienbande ergeben eine Vielzahl an möglichen Beziehungs- und Lebensmustern und ermöglichen Mikroanalysen auf kleinstem Raum ebenso wie Langzeitstudien zu unterschiedlichen Wandlungsprozessen. Verwandtschaftliche Beziehungen bilden nicht nur für die gesellschaftlichen, sozialen und familiären Strukturen in Vergangenheit und Gegenwart bedeutsame Ordnungs- und Sinnfaktoren, sondern auch für die Alltagspraxis. Familie und Verwandtschaft werden folglich in diesem Band als Organisations- und Ordnungsgefüge verstanden, die neben der gesellschaftlichen auch die Geschlechterordnung einer jeweiligen Kultur und Zeit spiegeln, da sie als ein dem historischen, sozialen, kulturellen, ökonomischen und mentalen Wandel stark unterliegendes Gebilde begriffen werden.

Die sich mit Themen aus der Geschichtswissenschaft, den Literaturwissenschaften, der Slawistik, Volkskunde, Theologie, Philosophie, Pädagogik und Erziehungswissenschaft beschäftigenden Beiträge setzen drei Akzente: erstens die Analyse historischer und zeitgenössischer Bilder, Fiktionen und Konstruktionen in Literatur und Kunst, in denen komplexe Vorstellungen und vielschichtige Arrangements von Familie, Verwandtschaft und Genealogie ihre Wirkungsmacht entfalten, zweitens die Auseinandersetzung mit dem Geschlechterverhältnis und der spezifischen Rolle von Mann und Frau sowie drittens Familienschande im Kontext von individueller und institutioneller Gewalt.

Der Mehrwert des vorliegenden Bandes liegt nicht nur im breiten Spektrum an wissenschaftlichen Bereichen und methodologischen Ansätzen, sondern auch in der breiten zeitlichen und geografischen Ebene. So folgen Betrachtungen zu den „Gebrüdern Karamasow“ von Fjodor Dostojewski sowie Kunstinstallationen, die die Grenzen der kreativen, künstlerischen, künstlichen und biologischen Schöpfung und deren inhärente Geschlechterzuschreibungen relativieren, auf eine Studie mittelalterlicher Verse Wolfram von Eschenbachs sowie die Auseinandersetzung mit den unmenschlichen Zwangssterilisationen in der NS-Zeit. Die überaus komplexen Beiträge beleuchten Prozesse der gesellschaftlichen, intrafamiliaren und individuellen Identitätsbildung und zeigen auf, dass traditionelle Familienmodelle und Geschlechterrollen oftmals zunächst vor allem in der Kunst und der Literatur in Frage gestellt wurden und werden, ehe diese Diskussionen in den öffentlichen Diskurs eingehen konnten. Durch die gründliche Erschließung der soziokulturellen, historischen und juristischen Kontexte ergibt sich ein rundes Bild der besprochenen Materie.

Titelbild

Eva Labouvie / Ramona Myrrhe (Hg.): Familienbande - Familienschande. Geschlechterverhältnisse in Familie und Verwandtschaft.
Böhlau Verlag, Köln 2007.
300 Seiten, 37,90 EUR.
ISBN-13: 9783412218065

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