Die Erfahrung der Welt

Linda Colley erzählt die frühe Geschichte der Globalisierung anhand des außergewöhnlichen Lebens der Elizabeth Marsh

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als „eine Art weiblicher Candide“ bezeichnet sie ihre Biografin. Und tatsächlich: Betrachtet man die „Leben und Schicksale der Elizabeth Marsh“ genauer, mag man sich in Voltaires „Candide ou l’optimisme“ (1759) versetzt fühlen oder auch in Daniel Defoes Werke, auf den ersten Blick etwa in „The Fortunes and Misfortunes of the Famous Moll Flanders“ (1722) und „Roxana. The Fortunate Mistress“ (1724). Genauso wie in den genannten Texten – hier allerdings nicht fiktiv – ist das Dasein der Protagonistin von einem ständigen Auf und Ab gekennzeichnet, von familiärem, beruflichem und finanziellem Glück ebenso wie von mehreren schweren Schicksalsschlägen.

Dieser permanente Wechsel in ihrem Leben, so lautet die These in Linda Colleys 2007 erstmals erschienenem Buch „The Ordeal of Elizabeth Marsh. A Woman in World History“, sei stets eng verknüpft mit der Entwicklung der Weltwirtschaft im 18. Jahrhundert. Diese erfährt im Zuge der Expansion der europäischen Kolonialmächte eine bis dahin ungekannte Beschleunigung und wird von der Autorin deshalb als eine „ausgesprochen gewaltsame Phase der Weltgeschichte“ beschrieben.

Linda Colley, Historikerin an der Princeton University, erzählt drei miteinander verflochtene Geschichten: Die erste handelt von Elizabeth Marsh und ihrem außergewöhnlichen Leben, das sie auf Reisen zu Wasser und zu Lande auf mehrere Kontinente führt. Die zweite betrifft ihre ausgedehnte Familie, die aufgrund ihrer Berufe, Auswanderungen und Ansichten erheblich zu Marshs eigener Mobilität beiträgt. Die dritte schließlich befasst sich mit der Globalisierung der Politik und Ökonomie in der Frühen Neuzeit, als sich die Verbindungen zwischen den Kontinenten und Meeren in vielfältiger Weise verändern.

Die 1949 geborene Britin folgt in der Art ihrer Beschreibung dem Romancier John Galsworthy (1867-1933), nach dem sich Geschichte gut in komprimierter Form darstellen und vermitteln lässt, indem man den Werdegang verschiedener Familienmitglieder nachzeichnet. Colley spricht in diesem Fall von einer „Mikrostrategie“, die es ihr ermögliche, „die Perspektiven auf die Vergangenheit zu nutzen, die sich anhand einer Familie bieten“.

So stellt ihr Buch über Elizabeth Marsh hinaus eine Gruppe von Personen dar, die durch Verwandtschaft oder Ehe miteinander verbunden sind. Es gewährt einen lebendigen Einblick ins 18. Jahrhundert, da es die abenteuerreichen „Leben und Schicksale“ der unterschiedlichen Figuren gekonnt einbettet in eine Zeit politischer und militärischer, wirtschaftlicher und kultureller Umbrüche. Der Autorin gelingt es, die zahlreichen Verbindungen, die zwischen „völlig unpersönlichen und fern liegenden Veränderungen“ einerseits und „intimsten Zügen des menschlichen Wesens“ (Charles Wright Mills) andererseits bestehen, aufzuzeigen und somit eine Brücke von der Mikro- zur Makrogeschichtsschreibung zu schlagen.

Doch was ist an Elizabeth Marsh so besonders, dass sich Linda Colley für mehrere Jahre auf Recherche begibt, um deren „Leben und Schicksale“ zu rekonstruieren – auch und gerade wenn, wie die Historikerin zugibt, grundlegende Informationsquellen wie beispielsweise Briefe nicht mehr existieren oder es auch an jeglicher Beschreibung ihres Äußeren mangelt?

In mehrfacher Hinsicht ist Marshs Lebensweg ungewöhnlich: 1735 geboren als Tochter eines englischen Schiffszimmermannes und einer jamaikanischen, möglicherweise afrikanischstämmigen Mutter ist ihr Dasein von Anfang an eng mit den geschäftlichen Ambitionen britischer Kaufleute und Abenteurer verzahnt. Ein eben solcher ist ihr Vater, der sein Glück einige Zeit auf den Meeren und in der Neuen Welt versucht. Kurz vor ihrer Geburt zieht Milbourne Marsh mit seiner Ehefrau nach Portsmouth, wo er die nächsten 19 Jahre im Hafen Schiffe repariert und seine Tochter in relativ stabilen Verhältnissen aufwächst.

Durch seine Beförderung zum Marinebeamten gelangen die Marshs auf das britische Menorca, das sie allerdings verlassen, als ein Kolonialkrieg zwischen England und Frankreich ausbricht. Gegen den Willen ihrer Eltern fährt Elizabeth allein los und wird auf der Fahrt von Gibraltar nach Lissabon zusammen mit anderen Passagieren von marokkanischen Piraten gefangen genommen und dem Sultan Sidi Mohammad vorgeführt, der erfolglos versucht, die junge Frau für sich zu gewinnen.

Nach einer Übereinkunft zwischen den Diplomaten kehrt sie nach England zurück und heiratet einen ihrer Mitgefangenen namens James Crisp. Dieser, der aus einer der „umtriebigsten Kaufmannsdynastien im frühmodernen Großbritannien“ stammt, versteht es durch Hilfe und Nutzung der weit verzweigten Netzwerke beider Familien, relativ schnell ein Vermögen und Karriere zu machen. Er handelt im Mittelmeerraum mit Waren aus aller Welt, kauft und verkauft Getreide und Wein, Seide und Salz. Doch die zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa – wie etwa der Siebenjährige Krieg (1756-1763) – behindern seine transnationalen Unternehmungen mehr und mehr. Der Versuch, durch Erwerb, Besiedlung und Kultivierung von Land in Ostflorida Geld zu machen, scheitert ebenfalls.

Nach seinem Bankrott wandert Crisp nach Indien aus, wo er einen Neuanfang wagt und mit Hilfe seiner Beziehungen den Posten eines Salzaufsehers für die „British East India Company“ erhält. Elizabeth folgt dem wenig geliebten Ehemann mit einer Tochter Ende 1771 nach Madras. Ein Sohn kommt später nach und wird einem Kaufmann nach Persien mitgegeben. Während Crisp seine Stellung im Laufe der Zeit vernachlässigt, um seine eigenen Geschäfte zu treiben, geht Elizabeth allein auf eine ausgedehnte Reise durch Ostindien und Bengalen. Begleitet wird sie von einheimischen Soldaten, Führern und Dienern – zeitweise auch von einem gewissen Captain George Smith, der möglicherweise ihr Geliebter gewesen ist: „Das war ein Paradox an Elizabeth Marshs Reise: Sie war krank, gesellschaftlich und politisch bedeutungslos und sporadisch sehr ängstlich, zugleich aber auch überaus privilegiert. Obwohl sie in vielfacher Hinsicht eine Außenseiterin war, reiste sie unter Bedingungen, die normalerweise an Wohlstand, gehobenen Status und Macht geknüpft waren.“

Diese Darstellung deutet nur grob an, welch große Fülle an unterschiedlichen Eindrücken und Erlebnissen Elizabeth Marsh gesammelt beziehungsweise gehabt hat. Ihre Erfahrung der Welt, so macht ihre Biografin aber immer wieder deutlich, ist möglich, weil Marsh weitreichende Beziehungen hat und den Einfluss ihrer hohe Positionen innehabenden Verwandten bei der Royal Navy bei großen Schiffsunternehmen und der britischen Ostindienkompanie einsetzt, um sicher, preiswert und auch allein zu verreisen. Andererseits zeichnet die britische Historikerin ihre Protagonistin als willensstarken Charakter, der die Prüfungen, so schwer sie auch seien, meistert und mitunter Entscheidungen trifft, bei denen sie persönliche und gesellschaftliche Grenzen überschreitet und Gefahren eingeht.

Es gelingt Marsh ferner, sich, wo immer sie auch ist, schnell anzupassen. So werden ihre Entwicklung und Ansichten von den Menschen und den Ereignissen außerhalb Europas, denen sie ausgesetzt ist, mit beeinflusst. Sie legt jedoch nicht alle Überzeugungen ab, die ihr aus ihrem Umfeld in Europa mitgegeben worden sind, wie etwa den Absolutheitsanspruch der christlichen Religion oder die positive Einstellung gegenüber dem Sklavenhandel.

Deutlich wird ihre, nicht zuletzt von der englischen Literatur ihrer Zeit, aber auch von ihren traumatischen Erfahrungen in Nordafrika beeinflusste Haltung gegenüber dem Christentum als einem Haltepunkt in einem Text, den sie im Gegensatz zu den späteren Aufzeichnungen von ihrer Indienreise veröffentlicht: In „The Female Captive“, das sie 1769 anonym publiziert und das an Texten von Henry Fielding, Samuel Richardson und Lady Mary Montagu orientiert ist, beschreibt sie ihre Erlebnisse als Gefangene der Piraten und später des Sultans in Marokko. Abgesehen von dieser „merkwürdig unbeholfen und sogar schockierend“ geschriebenen Erzählung, enthält das Buch bis dahin nicht verfügbare ethnografische und politische Beobachtungen und kann auf diese Weise auch als ein Reisebericht gelesen werden – entstanden zu einer Zeit, in der dieses Genre durch die Expansion des britischen Empire nicht nur in England eine große Nachfrage erfährt.

Linda Colley schreibt mit „Leben und Schicksale der Elizabeth Marsh“ mehr als die Biografie einer in vielerlei Hinsicht spannenden und ungewöhnlichen Frau. Sie rekonstruiert anhand der Erlebnisse der Abenteurerin, aber auch derjenigen ihrer familiären Umgebung die politischen und wirtschaftlichen Ambitionen und Netzwerke der Europäer, die sich bereits damals dicht um den Globus spannen. Colley lässt eine Welt erstehen, für die das Zusammenarbeiten und -leben der verschiedenen Kulturen, der Austausch von Waren unterschiedlichster Art, aber auch der Krieg mit verheerenden Auswirkungen wie etwa Flucht und Migration (auch aufgrund von Arbeitssuche), keine Besonderheiten, sondern Selbstverständlichkeiten sind, mit denen man umzugehen lernen und leben muss. Vielleicht – das mag der Leser am Ende denken – sind die „Leben und Schicksale der Elizabeth Marsh“ lediglich deshalb so außergewöhnlich, weil die Engländerin auch hohe Hürden, die sich ihr stellen, zu überwinden vermag und die vielen Möglichkeiten, die sich ihr bieten, zur rechten Zeit zu nutzen weiß. So kann sie das (er-)leben, wovon andere nur träumen.

Titelbild

Linda Colley: Leben und Schicksale der Elizabeth Marsh. Eine Frau zwischen den Welten des 18. Jahrhunderts.
Übersetzt aus dem Englischen von Ulrike Bischoff.
Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 2008.
405 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783861508816

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