Der Mensch im Zentrum

Alexander Košenina schreibt über die „literarische Anthropologie“ und ihre Anwendungsgebiete

Von Susan MahmodyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Susan Mahmody

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit der europäischen Aufklärung rückte das Individuum ins Zentrum des Interesses. Die Einheit von Körper und Seele, deren Wechselbeziehung und harmonische Kombination machte laut zeitgenössischen Denkern den Menschen aus. Die Anthropologie, die Wissenschaft vom Menschen, feierte in diesen Tagen ihren Aufstieg. An diesem Punkt setzt auch Alexander Košeninas Buch „Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen“ an, in dem er „inhaltliche wie methodische Perspektiven, die sich aus der ,Menschenkunde‘ ergeben, für ein besseres Verständnis von Texten“ nutzen möchte.

Als Einstieg wählt er die nach den großen Entdeckungsreisen zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert entstandene Reiseliteratur und das aufkeimende Interesse an fremden Völkern und Kulturen mit Protagonisten wie Jean-Jacques Rousseau, Georg Forster und Alexander von Humboldt, wodurch die Nähe zur Ethnologie aufgezeigt wird. Die Erforschung des menschlichen Wesens an Hand psychologischer Merkmale – so galt das Irrenhaus im 18. Jahrhundert als zentraler Ort zur Beobachtung der menschlichen Natur und wurde das Bild des Kriminellen als negativer Maßstab für den Menschen gesehen – und der Physiognomik des Menschen wird vom Autor in verschiedenen Abschnitten behandelt. Literarische Figuren wurden mit stets größerer Sorgfalt gezeichnet, wobei das Äußere der Protagonisten deren Inneres widerspiegeln sollte. Der anthropologische Roman gewann an Bedeutung. Ziel dieser Gattung war es, das Innenleben des Menschen so deutlich und wahrheitsgetreu wie möglich darzustellen, also Gedanken, Gefühle und sinnliche Eindrücke abzubilden. Als Beispiele wären Johann Wolfgang von Goethes „Werther“, Gotthold Ephraim Lessings „Emilia Galotti“ und Karl Philipp Moritz’ „Anton Reiser“ zu nennen. Diese Entwicklungen sieht der Autor als Basis des Realismus, denn auch das Ziel dieser literarischen Strömung war es, die Menschennatur wahrheitsgetreu wiederzugeben, sowie die physischen und psychischen Hintergründe hinter menschlichem Handeln darzustellen. Einen eigenen Abschnitt widmet der Autor der Selbstbestimmung des Menschen, um genauer zu sein der Selbstbestimmung der Frau, die damals keineswegs als naturgegebenes Recht betrachtet wurde. Die Frau unterstand zunächst dem Willen des Vaters und später dem des Ehemanns. In zeitgenössischen literarischen Werken wurde diese Position der Frau vielfach debattiert und in Frage gestellt, wodurch die Problematik Einzug in den breiteren Diskurs finden konnte.

„Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen“ ist ein weiterer Teil der Reihe „Akademie Studienbücher“, die fundierte Einführungswerke in verschiedene Epochen, Themenkomplexe und Arbeitstechniken bietet. Der vorliegende Band passt ideal in diese Reihe. Einschlägige Philosophen, Psychologen, Historiker, Soziologen und deren Theorien sowie deren Anwendung auf ausgewählte literarische Texte werden präsentiert. Hierbei bedient sich der Autor einer einfachen und deutlichen Sprache und unterstützt seine Ausführungen durch eine Vielzahl an Zitaten.

Auch optisch ist das Werk sehr ansprechend. Jeder Abschnitt wird mit einer passenden Abbildung und einer Art Einleitung begonnen, die den Bildinhalt erklärt und den Leser darauf vorbereitet, was das nächste Kapitel inhaltlich zu bieten hat. Die besprochenen Beispiele sind gut gewählt und sehr anschaulich. Košenina schöpft aus einem breiten Spektrum literarischer Beispiele. Er bespricht Reiseerzählungen ebenso wie Lehrgedichte, Kriminalliteratur, psychologische Fallgeschichten, Romane und Dramen und skizziert Entwicklungen wie den anthropologischen Roman, das anthropologische Drama und das anthropologische (Lehr-)Gedicht, wobei auch deren Aufstieg, Charakteristika und Auswirkungen nicht zu kurz kommen. Die zitierte und angeführte Literatur ist im ausführlichen Serviceteil ausgewiesen, der auch weiterführende Verweise zu allgemeinen bibliografischen Hilfsmitteln, Neuausgaben anthropologischer Quellen und Bibliografien zu den besprochenen Autoren beinhaltet. Ebenso sorgfältig ist der Quellennachweis der aufgenommenen Abbildungen. Das angefügte Glossar kann sowohl zur schnellen Begriffsklärung während der Lektüre als auch als kleines Nachschlagewerk nach dem Studium des Buches dienen. Jedes Kapitel wird durch eine Anzahl an Fragen zum Textverständnis sowie mit kommentierten Lektüreempfehlungen zur Vertiefung ins Thema abgeschlossen. Alexander Košenina legt mit „Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen“ ein unverzichtbares Studienbuch vor, das auch für das Selbststudium sehr geeignet ist.

Titelbild

Alexander Košenina: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen.
Akademie Verlag, München 2008.
254 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783050044194

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch