Auschwitz – ein Symbol?

Zum „Metzler Lexikon literarischer Symbole“

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer ein Lexikon der literarischen Symbole vorlegen will, kämpft mit einer kaum zu überwindenden Schwierigkeit, die der englische Literaturwissenschaftler Michael Ferber, Herausgeber eines „Dictionary of Literary Symbols“ (Oxford 1999), auf die knappe Formel bringt: „Anything can be a symbol.“

Um überhaupt ein Symbollexikon zusammenstellen zu können, bedarf es einer Auswahl. Für Ferber ist das Auswahlkriterium die Tradition, das heißt ein Symbol muss über viele Jahre bei vielen Autoren Verwendung gefunden haben. Selbst mit dieser Einschränkung fällt es schwer, den Stoff zu meistern. Ferber kommt auf 175 Einträge, die meist bei der Bibel oder der klassischen Antike beginnen und in der europäischen Moderne enden, wobei der Schwerpunkt auf der englischsprachigen Literatur liegt.

Das von den Augsburger Literaturwissenschaftlern Günter Butzer und Joachim Jacob herausgegebene „Metzler Lexikon literarischer Symbole“ ist in mancherlei Hinsicht ein Pendant zu seinem englischen Vorgänger, von dem es sich jedoch einerseits dadurch unterscheidet, dass verständlicherweise die deutschsprachige Literatur im Mittelpunkt steht, zum anderen durch den größeren Umfang. Es enthält mehr als vierhundert Artikel, die meist erheblich länger sind als die in Ferbers „Dictionary“. Ein Auswahlkriterium wird zwar genannt, bleibt aber vage: „Das Kriterium für die Aufnahme eines Symbols ist seine Wirkungsmächtigkeit in der literarischen Rezeption.“ Unberücksichtigt sollen die Symbole bleiben, die nur in einem Text oder nur im Œuvre eines einzigen Autors vorkommen.

Aus der Intertextualität entspringt die Schwierigkeit, dass der Symbolgehalt vieler Phänomene nicht ein für alle Mal feststeht, sich vielmehr von Text zu Text verändern kann, bis hin zum Gegenteil der landläufigen Bedeutung. Dieser Bedeutungsvielfalt tragen die Artikel ausführlich, fast lustvoll Rechnung, so dass der Benutzer zwar viel erfährt, ihm jedoch durch die Fülle des divergierenden Angebots eine schnelle Orientierung erschwert wird. Die Rose zum Beispiel symbolisiert: 1) die Liebe, den Liebesschmerz und erotisch konnotierte Körperteile sowie Verschwiegenheit; 2) die Jugend, aber auch die Vergänglichkeit und den Tod; 3) die Jungfrau Maria, Jesus Christus, das Paradies und die göttliche Gnade; 4) die Vollkommenheit, die selbstgenügsame Schönheit und Selbstbezüglichkeit, die Poesie und das Nicht-Symbolische. Im Zusammenhang mit den letzteren Zuweisungen wird Gertrude Steins berühmter Satz „Rose is a rose is a rose is a rose“ zitiert, der auch den Umschlag des Lexikons ziert, was beweist, dass die Herausgeber dem eigenen Unternehmen nicht ohne ironische Skepsis gegenüberstehen, vergleichbar der Selbstironie, mit der Ferber in seinem „Dictionary of Literary Symbols“ Sigmund Freud zitiert: „Eine Zigarre kann manchmal auch einfach nur eine Zigarre sein.“

Es gibt wohl schwerlich einen Gegenstand, der noch symbolischer sein könnte als die Rose. Wenn das Lexikon über sie und vergleichbar Symbolträchtiges wie etwa Blut, Drache, Schleier, Kreis, Kreuz, die Farbe Rot, die Zahl Drei undsoweiter detaillierte Artikel bringt, folgt es der abendländischen Tradition. Neue Wege schlägt es ein, wenn es Phänomene aufnimmt, deren Eignung zum Symbolischen sich kaum ohne einschlägige Literaturtheorie erschließt, wie Buchstabe und Schrift. Auch dem Begriff „Vers“ ist ein Eintrag gewidmet: Er sei Symbol der Dichtung und des mimetischen Ausdrucks, eine unklare und recht allgemeine Behauptung, deren Inhaltslosigkeit erst durch Bemerkungen zu Einzeltexten ansatzweise kompensiert wird.

Der übliche Symbolbegriff wird ebenfalls erweitert durch die Aufnahme von Ländern und Städten und anderen geografischen Benennungen. Die Auswahl ist willkürlich. Gewiss haben Athen und Sparta klar umrissene symbolische Qualitäten, der Rhein ebenfalls, bei der Donau wird es schon etwas schwammig. Dass Rom und Paris zu Sinnbildern geworden sind, ist uns geläufig. Ob Berlin das Zeug hat, den freien Geist, die Dekadenz, die Moderne und den Kalten Krieg zu symbolisieren, ist – abgesehen vom Kalten Krieg – fraglich. Wann und mit welcher Dauer erlangen zeitbedingte Images symbolische Qualität? Wien, Moskau und New York sind nicht vertreten.

Doch nicht dass Vieles fehlt, ist zu beanstanden – so, wie dass Lexikon angelegt ist, wäre es unbillig, Vollständigkeit zu erwarten –, bedenklicher ist, dass Auswahl und einzelne Artikel nicht frei von einem der Sache unangemessenen Originalitätsbemühen sind. Das belegt zum Beispiel der Artikel über Auschwitz, „Symbol der Gesamtheit des industriell betriebenen Massenmordes durch Nationalsozialisten, v. a. an Juden, der vollständigen Entmenschlichung und absoluten Folter“. Hier wird nicht reinlich genug unterschieden zwischen Synekdoche – Auschwitz als Pars pro toto der Judenvernichtung – und Symbol. Ein solches ist Auschwitz deswegen nicht, weil ihm wegen seiner Einmaligkeit die Polarität des Symbols zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen – soviel Rückgriff auf die Symboltheorie der Goethe-Zeit muss sein – fehlt, was der Verfasser des Eintrags auch letztlich weiß, wenn er Auschwitz ein „absolutes Symbol“ nennt, „das wenig Varianz erfährt und immer in enger Verbindung mit der historischen Wirklichkeit steht“. Der Begriff „absolutes Symbol“ ist literaturwissenschaftlich unbrauchbar. Hier wie auch an einigen anderen Stellen ist das Lexikon der Gefahr erlegen, die gedankliche Präzision der Aktualität zu opfern.

Ein weiterer Grund dafür, dass die Benutzung des Nachschlagewerks keine reine Freude ist, liegt in der Unfähigkeit mancher Beiträger, ihren Stoff auf das Wesentliche zu konzentrieren und auf Marginales zu verzichten. Vollständigkeitsstreben verschafft isolierten Phänomenen eine stärkere Beachtung, als dies gedanklicher Stringenz gut tut.

Ein kleines Beispiel: In dem Artikel „Schlange“ ist unter anderem davon die Rede, dass die Schlange ein Sexualitätssymbol sei, und als Beleg dient das zweistrophige Heine-Gedicht „Du sollst mich liebend umschließen“. Die erste Strophe enthält den Wunsch, von der Geliebten mit Armen, Füßen und Leib umschlungen zu werden, die zweite die Erfüllung dieses Wunsches:

Gewaltig hat umfangen,
Umwunden, umschlungen schon
Die allerschönste der Schlangen
Den glücklichsten Laokoon.

Die Verse werden mit Symboldeutung überfrachtet: Heine imaginiere die sexuelle Vereinigung im Zeichen der Schlange und widerrufe zugleich das mythische Leid des Laokoon. Die Interpretation bleibt die Antwort auf die Frage schuldig, inwiefern wir es hier überhaupt mit einem textübergreifenden Symbol zu tun haben und nicht lediglich mit einem singulären Bild, dessen Sinn sich darin erschöpft, durch kühne Assoziation eine witzige Überraschung zu bereiten.

Der Gesamteindruck, den das „Metzler Lexikon literarischer Symbole“ hinterlässt, ist zwiespältig: Einerseits macht es ein umfassendes und bisher in dieser Fülle nicht vorhandenes Angebot und ist deswegen willkommen. Man erfährt viel Wissenswertes. Andererseits jedoch ist der Stoff so aufgearbeitet und arrangiert, dass der Benutzer manchmal zögert, sich dieses Angebots vertrauensvoll zu bedienen, und seine Skepsis selten überwindet. Obwohl das Werk in der Tradition moderner Lexikografie steht, wird diese konterkariert durch die Tendenz zu postmoderner Beliebigkeit. Gewiss, solche Elemente sind zuweilen anregend und belebend, doch erschweren sie die schnelle und schnörkellose Information, derentwegen man ein Handbuch zu konsultieren pflegt. Vielleicht lässt sich dieser Wildwuchs in einer zweiten Auflage beschneiden.

Titelbild

Günter Butzer / Joachim Jacob (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2008.
442 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783476021311

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