Das Zeug zum Standardwerk

Tilmann Köppe und Simone Winko geben einen Überblick über „Neuere Literaturtheorien“

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 

Das Unterrichten von Einführungen in die Literaturwissenschaft ist ein anspruchsvolles Geschäft. Denn nicht nur die Literatur – und noch ihr Kondensat in einem Kanon wichtigster Texte – ist ein viel zu weites Feld, um sie in einem Semester oder Modul gründlich und grundlegend einführen zu können. Auch die Literaturtheorien als methodologische Schlüssel zum reflektierten Lesen und Interpretieren treten im Zeitalter des unbestritten herrschenden Methodenpluralismus in zweistelliger Zahl an den Dozenten und seine Novizen heran.

Der Reiz an den Einführungen besteht darin, dass die Studierenden, wenn sie frisch an eine Universität kommen, meist große Neugier aufs Theoretisieren und viel Diskussionsfreude mitbringen. Das Risiko jeder Einführung besteht darin, dass der Spagat zwischen Auswahl sowie Verdeutlichung wichtiger Theorien und deren Verknüpfungen mit literarischen Texten nicht zur schmerzlichen Zerreißprobe wird. Für diese so schöne wie schwierige Aufgabe bietet der (in Sachen Handbüchern, Fachlexika und Einführungen für Literaturwissenschaftler überaus bewährte Metzler Verlag) nun ein willkommenes Vademecum. Sein Kern besteht aus den Literaturtheorie-Beiträgen der beiden Verfasser zum nützlichen „Metzler Handbuch Literaturwissenschaft“ (herausgegeben von Thomas Anz), die für diese Einführung freilich überarbeitet, um weitere theoretische Schulen ergänzt und um je spezifische Beispielinterpretationen erweitert wurden.

Tilmann Köppe und Simone Winko haben es durch eine sehr umsichtige Komposition geschafft, den Dschungel vieldiskutierter Literaturtheorien in 15 Kapitel zu strukturieren und zu lichten und mithin auf gut 300 großformatigen Seiten ein wohldurchdachtes Semesterprogramm anzubieten. Es gibt, was den Umfang der diskutierten Methoden und wohl auch was die Klarheit der Darstellung betrifft, derzeit kaum eine bessere didaktisch aufbereitete Einführung in die theoretischen Fundamente der Literaturwissenschaft. Das Buch hebt an mit dem knappen Aufweis der Unmöglichkeit, theoriefrei Literatur zu lesen. Daran schließt sich eine weniger historisch als systematisch organisierte Skizze von Grundfragen literaturwissenschaftlicher Theoriebildung: Was ist Literaturtheorie, wie ist sie aufgebaut und abgegrenzt? Was sind ihre Grundprobleme? Bevor das Dutzend ‚neuerer‘ Literaturtheorien (also: die Trends der letzten 20 Jahre) auftreten darf, gibt es, sinnvollerweise, erst noch 30 Seiten zu den wichtigen, weil wahrlich fortlebenden Vorläufern: kurze Skizzen von Hermeneutik, Formalismus (und frühem Strukturalismus) sowie zur Werkimmanenz beziehungsweise New Criticism.

Dann beginnt die Revue der aktuellen, forschungsleitenden Paradigmen mit Kapiteln zum Strukturalismus, zur psychoanalytischen Literaturwissenschaft (einleuchtenderweise untergliedert in Abschnitte zu den Diskursbegründern Sigmund Freud und Jacques Lacan) sowie zur Rezeptionsästhetik. Die Kapitel sind, wie alle weiteren, klug strukturiert, indem sie zuerst nach Bezugstheorien und Rahmenannahmen fragen, was bei den notorisch importlustigen Literaturwissenschaftlern, die gerne bei Philosophen, Psychologen, Soziologen, Anthropologen und jüngst auch bei Evolutionsbiologen und Neurowissenschaftlern über den Tellerrand der eigenen Disziplin lesen und leihen, unbedingt sinnvoll ist.

Der zweite Schritt fragt dann (gewissermaßen als Gegenbewegung zu den Import-Theoremen) nach der jeweils theoriespezifischen Fassung von Leitaspekten der Literaturwissenschaft, mithin nach dem jeweiligen Verständnis von Literatur und Literarizität (Was ist Literatur? Wo liegen ihre Grenzen?), nach der Modellierung von Literaturanalyse oder Interpretation und nach der jeweiligen Konzeptualisierung von Grundbegriffen wie Autor, Leser und Kontext (der Literatur im engeren Sinne). Ein weiterer (nicht unwichtiger, wenn auch meist nur impliziter) Aspekt von Literaturtheorien fehlt in dieser Liste: die Wertungsfrage ‚was ist gute / gelungene / relevante Literatur?‘ Diese literaturkritische Abstinenz ist weniger bemerkenswert im Rahmen allgemeiner Theoriebildung der Literaturwissenschaft, umso mehr hingegen in diesem spezifischen Buch, dessen Autorin, Simone Winko, ja eines der wichtigsten Bücher zu literarischer Wertung verfasst hat.

Die solcherart referierten neueren Theorien werden jeweils mittels einer knapp zusammengefassten Beispielinterpretation verdeutlicht. Auch hierbei bewähren sich die Autoren als souveräne Didaktiker. Denn die ausgewählten Modellinterpretationen (etwa von Norbert Christian Wolf eine Bourdiesche Analyse von Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“, oder von Claudia Stockinger eine medienwissenschaftliche Deutung von Theodor Storms Novelle „Immensee“) veranschaulichen die thematischen Schwerpunkte und Argumentationsweisen trefflich. Willkommen sind auch die kritischen Hinweise auf Grenzen, blinde Flecke, Schwachpunkte der einzelnen Theorien, die meist auf etwa einer Seite kompakt vorgetragen werden.

Die eigene, systematische Herangehensweise der Verfasser ist tendenziell der analytischen Literaturtheorie verbunden; also dem Versuch, ohne eigene starke thematische oder theoretische Parteinahmen, die Begriffsverwendung, Themen- und Methodenwahl aus einer Metaperspektive zu beobachten und dabei spezifische Fokussierungen, Stärken und Schwächen der einzelnen Ansätze herauszupräparieren.

Besonders gelungen in diesem weitläufigen Parcours unterschiedlicher Lesemethoden und Theoriegebäude scheint die systematische Gliederung der Großkapitel zu „Gesellschaftswissenschaftlichen Literaturtheorien“ und die überzeugende Tranchierung des unübersichtlichen Gebiets diverser „Kulturwissenschaftlicher Ansätze“. Die Ausführungen zu den soziologisch inspirierten Methoden erhellen zuerst marxistische und ideologiekritische Schulen, skizzieren dann das in den 1970er- und 1980er-Jahren in Deutschland so erfolgreiche Projekt einer umfassenden, funktionsgeschichtlichen „Sozialgeschichte der Literatur“ und glänzen sodann mit eindringlichen Präsentationen der Grundbegriffe von Niklas Luhmanns Systemtheorie und Pierre Bourdieus Feldtheorie als den beiden anregendsten neueren Theoriekomplexen, die jeweils auf etwa einem Dutzend Seiten souverän konzentriert referiert, gelobt und kritisiert werden.

Das Kapitel zu den „Kulturwissenschaftlichen Ansätzen“, die seit den 1990er-Jahren als dominante Strömung gelten dürfen, schafft ziemlich erfolgreich Übersicht im Begriffs-Dschungel der Kultur (einem wahrlich unscharfen Begriff, der als Umbrella-Term oder Catch-All-Kategorie eine bedrohliche Tendenz zur schwammigen, entdifferenzierenden All-Inclusive-Schwachdenkerei mit sich bringt).

Es beginnt mit einem historischen und systematischen Überblick über Kulturbegriffe und kulturwissenschaftliche Forschungsansätze, referiert dann den aus den USA stammenden ‚New Historicism‘ als texttheoretisch versierte Integrationsbewegung von alten Zielen der allgemeinen Sozialgeschichte und neuen poststrukturalistischen Annahmen zur Geschichtlichkeit von Texten und zur Textualität von Geschichte. Und es benennt schließlich auf 20 Seiten den weiten Fächer von Bezugstheorien und Themenschwerpunkten (von Erinnerungskulturen über Fragen literarischer Anthropologie bis zu medientheoretischen, raumtheoretischen oder bildtheoretischen Fragestellungen sowie den ausführlicher skizzierten Bereichen der postcolonial studies und der Forschungen zur Performativität), die die breite Welle von kulturwissenschaftlichen Werken, Sonderforschungsbereichen und Studiengängen seit den 1990er-Jahren kennzeichnet.

Diese umfangreichste Einführung in das methodologische Fundamentalgebiet der Literaturtheorie berücksichtigt neben einem breiten Spektrum kulturwissenschaftlicher Ansätze, den wichtigen diskursanalytischen, poststrukturalistischen und geschlechtertheoretischen beziehungsweise feministischen Ansätzen auch die neuen, in den philologischen Fächern bisher eher randständigen Bereiche einer an neueren (Neuro- und Bio-) Naturwissenschaften orientierten Analyse-Richtung, die hier unter dem noch wenig verbreiteten Namen einer Cognitive Poetics firmieren.

In anderen Theorieeinführungen ebenfalls selten thematisiert sind die hier berücksichtigten Theorieannahmen einer ‚Intentionalen Hermeneutik‘ (die Textbedeutungen, in deutlicher Abgrenzungen von den hier unter Poststrukturalismus verorteten Intertextualitätstheorien, wieder verstärkt an rekonstruierbare Autorabsichten rückbinden möchte) und einer ‚Analytischen Literaturtheorie‘, die weniger als eigene Interpretationsmethode auftritt, denn als Metatheorie der Literaturtheorie für möglichst klare Begriffsverhältnisse sorgen möchte. Der Band schließt mit knappen Bemerkungen zum weiten Feld einer ‚Anthropologie der Literatur‘, die zwar schon vor 20 Jahren von Wolfgang Iser angestrebt wurde, doch neuerdings im Rahmen einer Integration von evolutionstheoretisch ausgerichteten Arbeiten der Psychologie, Neurobiologie und Neurolinguistik den Kunstwissenschaften neue methodische Bezugsrahmen anbietet.

Die dem Rezensenten kritisch aufgestoßenen Momente beschränken sich auf Details. So hält er die Aussage, dass ‚werkimmanente Interpretation‘ „eine in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besonders populäre Weise des Zugriffs auf literarische Texte“ gewesen sei, für knapp daneben. Denn hatte die werkimmanente Deutung ihre Höhepunkte zumindest (in Deutschland und den USA) nicht eher in den 1950er- und 1960er-Jahren? Ihr Nachkriegs-Boom lässt sich doch gerade als Reaktion auf geistesgeschichtliche und weltanschauliche Theoriemodelle der ersten Jahrhunderthälfte begreifen. Ein anderes leichtes Unbehagen beschleicht einen bei der (sachlich keineswegs falschen) Darstellung einer Analysemethode wie der Dekonstruktion, deren fundamental kritischer, sprachbezogener und sprachspielerischer Appeal naturgemäß in einer analytisch didaktischen Aufbereitung zu verschwinden droht. Doch sind das Marginalien, und es ist klar, dass eine gründliche Auseinandersetzung mit den jeweiligen Theorien sowieso nicht ohne ein vertiefendes Studium von Originaltexten (etwa von Jacques Derridas minutiösen Textdurchgängen oder Paul de Mans sprachskeptischen rhetorischen Exerzitien) gelingen kann.

Der Metzler Verlag bestätigt mit dieser gelungenen Einführung seine umsichtige Politik, gründlich recherchierte Übersichtswerke (Lexika, Handbücher und Einführungen) für Literaturwissenschaftler zu erarbeiten. Der Preis dieses materialreichen Grundlagenwerks ist mit 20 Euro wohl gerade an der Grenze des für die meisten Studierenden Erschwinglichen. Leider ist der Band mit seinem akademischen Großformat und seiner zwar sehr übersichtlichen doch ästhetisch durch Hervorhebungs- und Kasten-Didaxe schon fragwürdig gestalteten Aufmachung nicht unbedingt ein schönes Buch. Aber welchem Lehrbuch eignet schon solch ästhetischer Mehrwert? Doch die Aufgabe, Studienanfänger durch Theoretisierungen des Lesens und Reflexionen von Theoriemodellen fürs verschärfte Lesen und Denken zu begeistern (statt sie mit ungelenken, abstrakten, lebensfernen Methoden zu lähmen oder aus den Philologien zu vertreiben) wird mit dieser Einführung gewiss einfacher. Das Buch hat wegen der Reichweite der behandelten Theorien und wegen der kompakten Klarheit seiner Darstellungen und Diskussionen das Zeug zum Standardwerk.

Titelbild

Tilmann Köppe / Simone Winko: Neuere Literaturtheorien.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2007.
325 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783476020598

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