Der Untergang der Athenia

Cay Rademachers Bericht über 1939

Von Stefanie HartmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Hartmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 

Die Athenia wurde 1917 von einem deutschen U-Boot versenkt, 15 Menschen starben. Soweit die Geschichte der ersten Athenia. Ein Schiff gleichen Namens wurde 1923 fertig gestellt – und sein Schicksal sollte nicht weniger dramatisch sein. Beschrieben hat es erstmals in großer Ausführlichkeit der Wissenschaftsjournalist Cay Rademacher, der bereits über die Queen Mary 2 geschrieben und einen Roman über die Estonia veröffentlicht hat.

Im August 1939 werden alle britischen Kapitäne angewiesen, nicht mehr den üblichen Schifffahrtsrouten zu folgen, unter ihnen auch der Kapitän der Athenia mit dem klangvollen Namen James Cook. An Bord des Schiffes, dessen Ziel Kanada ist, sind zahlreiche Menschen, die das kriegsbedrohte Europa verlassen wollen, die meisten von ihnen sind Kanadier oder US-Amerikaner, aber einige stammen auch aus dem Deutschen Reich und Osteuropa und fliehen, da sie als Juden dort verfolgt werden. Rademachers Verdienst ist es, diese Menschen dem Leser nahe zu bringen ohne einen emotionalen Kitsch à la „Titanic“ zu provozieren. Natürlich wirbt der Verlag im Klappentext insbesondere mit der quasi-prominenten Tochter des Regisseurs Ernst Lubitsch, die mit ihrer Kinderfrau an Bord ist. Doch im Verlauf der Geschichte werden einem vor allem die nicht-prominenten Passagiere vertraut (zum Beispiel das Paar Judith Evelyn und Andrew, ebenso die schwangere Belle Maranov), aber auch – und darin liegt die Vielseitigkeit des Buchs – die Besatzungsmitglieder der Athenia, der U-30 und zum Teil sogar der Schiffe, die später die Schiffbrüchigen aufnehmen.

Die Athenia wird kurz vor Antritt dieser Fahrt so umgebaut, dass sie 200 Personen mehr an Bord nehmen kann, was – zusammen mit den Verdunklungsmaßnahmen – dazu führt, dass Fluchtwege im Ernstfall nur schwer zu erkennen sind. Ein bedrohliches Gefühl herrscht also bereits als die 1417 Passagiere an Bord gehen.

Die deutsche Marine hat währenddessen von Hitler ausdrückliche Weisung, „jegliche Handlungen zu vermeiden, die die politische Haltung der Westmächte verschärfen könnten“. Während Großadmiral Erich Raeder diese Einschätzung teilt, wünscht der Kommodore Karl Dönitz, die großen Handelsschiffe Großbritanniens angreifen zu dürfen. Er platziert daher seine U-Boote so im Nordatlantik, dass bei einem Kriegseintritt Englands die Handelsschiffe sofort überfallen werden können. Nach der Prisen-Ordnung, auf deren Einhaltung Hitler größten Wert legt, muss ein Passagier- oder Frachtschiff eindeutig als britisches Schiff identifiziert und angehalten werden, anschließend müssen die Passagiere in Rettungsbooten in Sicherheit gebracht werden können.

Doch am 1. September eröffnet Deutschland den Krieg gegen Polen. Über die Chiffriermaschine Enigma erfährt die U-30 unter Befehl des Oberstleutnant Fritz-Julius Lemp davon. Zwei Tage später erklärt Großbritannien Deutschland den Krieg, Winston Churchill wird zum Marineminister ernannt. Dönitz gibt Befehl, „Feindseligkeiten gegen England sofort eröffnen“, auch wenn dies nicht den Direktiven von ganz oben entspricht. Als Lemp die Athenia vor sich sieht, entscheidet er sich für den Angriff. Unklar bleibt, was er zu erkennen glaubt: einen Truppentransporter, einen Hilfskreuzer, überhaupt ein britisches Schiff?

Einige Passagiere sterben sofort, als die Torpedos in die Bordwand eindringen. Sofort beginnt das Abseilen der Rettungsboote, während sich das U-Boot aus dem Staub macht – Lemp ist klar geworden, dass er einen Passagierdampfer angegriffen hat und ein zweiter Lusitania-Fall droht. Er informiert auch Dönitz nicht.

Bei dem Besteigen der Rettungsboote kommt es auf der Athenia zu weiteren Opfern. Doch weit gefährlicher noch gestaltet sich die Aufnahme der Passagiere durch Schiffe, die an den Unglücksort kommen: Ein Rettungsboot gerät in eine Schiffsschraube, ein anderes kentert am Bug einer Yacht.

Das Oberkommando der Kriegsmarine in Berlin erfährt von dem Unglück, und das Propagandaministerium meldet, die Briten hätten die Athenia selbst versenkt, um einen zweiten Lusitania-Fall zu inszenieren. Bei Lemps Vorgesetzten regen sich die ersten Zweifel.

Die Schiffbrüchigen werden nach Glasgow gebracht, wo sie darauf warten, nach Hause gebracht zu werden. Ihr Ansprechpartner, dessen Rolle bescheidener ist als der Klappentext vermuten lässt, ist der Sohn des US-Botschafters in Großbritannien: John F. Kennedy. Seine Aufgabe ist es vor allem, den Geretteten zu vermitteln, dass kein US-amerikanisches Kriegsschiff kommen wird, um sie aus Europa zu eskortieren. Die USA möchte zu diesem Zeitpunkt noch neutral bleiben und fürchtet, die Regierungen anderer Mächte könnten darin eine Verletzung dieser Neutralität sehen. So verlassen viele Reisende den Kontinent auf einem amerikanischen Oceanliner – ohne amerikanischen Begleitschutz. Die folgenden Schadensersatzklagen amerikanischer Bürger werden kompliziert, weil sich die amerikanische Regierung lange (bis zum 2. September 1940) weigert, die Version Großbritanniens anzuerkennen, nach der der Angriff von deutschen U-Booten ausging.

Lemps Verantwortlichkeit wird vertuscht, in den kommenden Jahren ist er an zahlreichen weiteren U-Boot-Einsätzen beteiligt. Als sich sein U-Boot im Frühjahr 1941 dem Frachter Esmond nähert, der von niemand geringerem als Barnet Copland befehligt wird, dem vormaligen Chief Officer der Athenia, der sich durch seinen mutigen Einsatz damals besonders hervor getan hatte, wird es von einem Zerstörer versenkt.

1946 werden Erich Raeder und Karl Dönitz als Angeklagte im Nürnberger Prozess zur Torpedierung der Athenia befragt, das Tagebuch der U-30 wird als gefälscht entlarvt. Raeder erhält lebenslänglich, bei Dönitz’ 10-jähriger Haftstrafe spielt dagegen die Versenkung der Athenia keine Rolle mehr.

Rademacher erzeugt Spannung insbesondere durch die Parallelisierung von politischen Geschehen und den persönlichen Erlebnissen der Passagiere. Dabei vermeidet er Kitsch ebenso wie die Männer-Bund-Klischees, wie man sie etwa von Lothar-Günther Buchheim kennt. So ließ sich das vorliegende Werk auch als Hörbuch beim audio media verlag produzieren. Es entsteht ein atmosphärisch dichtes Bild nicht nur einer Schiffskatastrophe, sondern auch der Tage um den Beginn des Kriegs in Westeuropa.

Titelbild

Cay Rademacher: Drei Tage im September. Die letzte fahrt der Athenia 1939.
Mare Verlag, Hamburg 2009.
320 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783866480995

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