Distanz und Mitleid

Über Per Olov Enquists Autobiografie „Ein anderes Leben“

Von Volker HeigenmooserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Heigenmooser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ein anderes Leben“ lautet der Titel des neuesten Werks des schwedischen Autors Per Olov Enquist. Diese Autobiografie erinnert natürlich an das berühmte Diktum „Ich bin ein anderer“ von Arthur Rimbaud – und das ist bei Enquist kein Zufall. Der Schwede Enquist gehört zur Generation der in den 1930er-Jahren Geborenen und mit Kerstin Ekman und Lars Gustafsson zu drei Großen seiner Generation. Diesen Stars ist es auch gelungen, über die Grenzen Skandinaviens hinaus Geltung und Bekanntheit zu erlangen. Zu den bekanntesten Romanen Enquists gehören „Kapitän Nemos Bibliothek“, „Auszug der Musikanten“ und der Roman „Der Besuch des Leibarztes“ über den Altonaer Arzt Johann Friedrich Struensee, der den Aufstieg und den Fall eines Aufklärers im Dänemark Christian VII. schildert.

Enquist hat die Form der Dokumentarliteratur, die vor allem in Schweden in den 1960er-Jahre sehr in Mode war, wie kaum ein zweiter aufgenommen und weiterentwickelt. Dies wird vor allem an seinen Romanen deutlich, die sich historischen Themen widmen. Akribisch rekonstruiert er die Geschehnisse und Verhältnisse und lässt den Leser an diesen Versuchen selbst teilhaben. Die zwangsläufig bei solchen Untersuchungen entstehenden Lücken füllt der Autor mit erzählerischen Mitteln aus. Nun hat Enquist seine Autobiografie vorgelegt, die der Autor mit den gleichen Mitteln bewältigt, die er sonst bei fremden Stoffen anwendet.

Deshalb schreibt Enquist konsequent über eine Per Olov Enquist genannte dritte Person. So kann der Autor tatsächlich „Ein anderes Leben“, das der Titel verheißt, beschreiben, oder richtiger, sich diesem nähern. Denn Enquist verfährt in seiner Autobiografie so wie in vielen seiner Romane, in denen sich ein Autoren-Ich oder eine „Untersucher“ genannte Person dem jeweiligen Gegenstand nähert. Er versucht sein eigenes Leben zu rekonstruieren, das in Nordschweden, in Hjoggböle in der Provinz Västerbotten im September 1934 beginnt. Der Vater stirbt, als das Kind kaum ein halbes Jahr alt ist, und so wächst Per Olov allein bei seiner Mutter auf, einer Volksschullehrerin und Anhängerin der in Skandinavien mächtigen Pfingstbewegung.

In mehreren Büchern hat sich Enquist mit der christlichen Erweckungsbewegung auseinandergesetzt, in „Auszug der Musikanten“ beispielsweise, in „Kapitän Nemos Bibliothek“ und zuletzt in dem großen Roman „Lewis Reise“. Auch in seiner Autobiografie spielt die Jugend auf dem nordschwedischen Land in einem geradezu fundamentalistischen Milieu eine große Rolle und der Erzähler versucht, die Bedingungen und Einflüsse zu verstehen. Anders als von der Mutter gewünscht wird Per Olov Enquist jedoch weder Pastor noch Lehrer, sondern geht aufs Gymnasium und dann zum Studium der Literaturwissenschaft nach Uppsala, wo er in ein ausgesprochen intellektuelles Klima gerät, das ihn zugleich einschüchtert und anzieht.

1961 gelingt es ihm, seinen ersten Roman unterzubringen, was ihm eine neue Lebenswelt erschließt. Nach dem Ende seines Studiums verdient sich Enquist seinen Lebensunterhalt als Literaturkritiker und Kolumnist. Während einer USA-Reise wird dem Schweden vorgeworfen, sich als Weltmoralist aufzuspielen, er solle doch vor seiner eigenen Haustür kehren. Er nimmt sich dies zu Herzen und schreibt den Dokumentarroman „Die Ausgelieferten“, in dem er die Auslieferung von nach Schweden geflohenen Balten, die in der Waffen-SS gedient hatten, an die Sowjetunion beschreibt. Der Roman, den sein Verleger am liebsten in seinem Programm nur ‚nebenbei‘ herausbringen wollte, wurde ein politischer und ästhetischer Erfolg, für den sein Autor den bedeutendsten skandinavischen Literaturpreis, den Literaturpreis des Nordischen Rats, erhielt. Anfang 1970 tritt Enquist ein halbjähriges Stipendium in Berlin an und erlebt eine besondere Zeit der politisierten Jugend, den Weg einiger Intellektueller in die Rote Armee Fraktion und den Ost-West-Konflikt. Er gewinnt Freunde unter deutschen Autoren.

In Berlin schreibt der ehemalige erfolgreiche Leichtathlet den Roman „Der Sekundant“, ein Buch über Sport und Politik. Enquist ist nun ein erfolgreicher Autor, der sich zu den Sozialdemokraten bekennt und der bald auch als gefeierter Dramatiker in der Welt herumgereicht wird. Bis er in die Dunkelheit abstürzt: Denn Enquist verfällt dem Alkohol. Seine Autobiografie ist auch die Geschichte vom Weg in die Alkoholabhängigkeit und die Befreiung davon.

Enquist gelingt es, diese sehr private und persönliche Geschichte so wie seine Romane über historische Menschen in der Zeit zu verankern, die biografischen, sozialen, politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge herzustellen und ästhetisch eindrucksvoll zu verarbeiten. So halten sich beim Lesen Distanz und Mitleid die Waage, so lernt man Enquist kennen und seine Zeit, die auch unsere ist – und man lernt ein wenig mehr verstehen vom Leben.

Eine kurze Anmerkung zur wie immer glänzenden Übersetzung Wolfgang Butts, der fast allen Werken Enquists seinen schönen deutschen Stil gegeben hat. Dass er die schwedische Redensart vom Daumen mitten in der Hand wörtlich übersetzt hat, ist ein merkwürdiger Lapsus, der offensichtlich auch dem Lektorat nicht aufgefallen ist. Doch das nur nebenbei. Wolfgang Butt belässt in der Regel schwedische Namen und hält sich im Prinzip an ihre Deklinationsform im Schwedischen: wenn im Deutschen der Artikel davor steht, lässt er die bestimmte Endung des schwedischen Worts weg. Abgesehen davon, dass das ein wenig manieristisch ist, weil das außer den wenigen Schwedischkundigen eh keiner merkt, handhabt er das Prinzip leider inkonsequent. Aber das ist natürlich nur eine Mäkelei an einer ansonsten nahezu makellosen Übersetzung.

Titelbild

Per Olov Enquist: Ein anderes Leben.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt.
Carl Hanser Verlag, München 2009.
543 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446232709

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