Vermutlich erfunden

Lars Gustafsson schreibt über „Frau Sorgedahls schöne weiße Arme“

Von Volker HeigenmooserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Heigenmooser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 

Er ist seit Jahrzehnten einer der im Ausland bekanntesten schwedischen Autoren: Lars Gustafsson. Seit einem seiner frühen Romane, „Herr Gustafsson persönlich“ (1972), gehört der schwedische Professor zu den prägenden Literaten und Intellektuellen nicht nur seines Herkunftlands. Dabei hat er sich eine Unabhängigkeit des Denkens erlaubt, die hierzulande am ehesten mit Hans Magnus Enzensberger verbunden wird, mit dem er seit langem befreundet ist. Gustafsson war Philosophieprofessor in Austin, Texas und wurde 1936 in Västerås in Mittelschweden geboren. Neben vielen intelligenten Essays hat Gustafsson Gedichte verfasst und bemerkenswerte Romane geschrieben. Nun ist sein jüngster Roman auf Deutsch, wie immer in der Übersetzung von Verena Reichel, bei Hanser erschienen. Sein Titel: „Frau Sorgedahls schöne weiße Arme.“ Dieser Roman ist eine Hommage an rothaarige Frauen. Denn alle Frauen, mit denen der Ich-Erzähler eine Liebesbeziehung hat, haben rote Haare. Und schöne weiße Arme. Aber sicher ist das nicht, wie der erste Satz des Romans nahe legt: „Wir nehmen an – gerade weil es absurd ist –, dass ich nicht existiert habe.“ Damit ist ein Erzähler vorgestellt, der sich gleichsam aufhebt. Man kann sich also über nichts sicher sein, nicht nur nicht über den Erzähler, der von sich sagt, er sei ein pensionierter Philosophieprofessor in Oxford, der in Västerås geboren und aufgewachsen ist. Man kann sich auch nicht sicher sein über die Zeit, über die in diesem wunderschönen Roman erzählt wird.

Denn die Geschichte spielt im 19. Jahrhundert, aber auch in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts, als der Erzähler zur Schule ging und im Jahr 2005, dem Jahr, in dem der Erzähler behauptet, dass er seine Geschichten aufgeschrieben habe. Doch über die Zeit des Lesers kann man gar keine Aussage treffen:

„Es kann – sagen wir das Jahr 2040 sein, das Jahr, in dem China die größte wirtschaftliche Macht der Welt sein wird, es kann das Jahr 2080 sein, wenn die letzten Automobile in einem Wäldchen in einer entlegenen Gegend verrosten.“

Diese philosophischen Gedankenspiele, die Gustafsson in seinem Roman tatsächlich im Wortsinn ganz spielerisch anstellt und die zentralen Fragen jedes Philosophierens behandeln, sind die Zugabe zu der Geschichte eines Hauses und den pubertären Sexualerfahrungen des Ich-Erzählers, der sich für ganz glücklich hält. Denn im Kern ist „Frau Sorgedahls weiße Arme“ ein klassischer Entwicklungsroman – nur im Rückblick des alten gereiften und abgeklärten Mannes. Und das ist nicht zuletzt deshalb spannend, weil der alte Mann eben nicht wie ein Jugendlicher direkt aufs Ziel zustößt, sondern sich abschweifend auf allerlei erzählerische Pfade locken lässt und diese dann mit großem Behagen begeht. Gleich zu Beginn wird dies in der schönen Geschichte vom Zimtbirnbaum bis zur Geschichte eines alten Hauses und seiner Bewohner erzählt, deren letzte die titelgebende Frau Sorgedahl ist.

Es gibt die Geschichten von der Beulenpest des Studienrats Westerberg, die märchenhafte Geschichte vom Mädchen und der Orgel in der Kirche von Haraker und die leicht schauerliche Geschichte von Pastor Dufvenbergs Hund. So wird Frau Sorgedahl erzählerisch umspielt. Man erfährt von ihr, dass sie Ingenieurin ist, die mit einem Ingenieur verheiratet ist, und dass sie wohl aus der italienischen Schweiz stammt. Und man erfährt, dass eine Clique jugendlicher Gymnasiasten, die sich in einem Heizungskeller treffen, um rationalistisch zu philosophieren, auf kaum merkliche Weise Kontakt zu Frau Sorgedahl bekommt. Wie der Roman zu seinem Höhepunkt, oder sagen wir besser, zum letzten des an erzählerischen Höhepunkten reichen Buchs kommt, wird hier natürlich nicht verraten. Nur so viel, dass Frau Sorgedahl am Schluss wohl in die Schweiz verzogen ist. Doch da ist sich der Erzähler gar nicht sicher: „Vielleicht bin ich nicht einmal richtig überzeugt davon, dass es sie je gegeben hat. Aber hätte sie nicht existiert, wäre ich vermutlich gezwungen gewesen, sie zu erfinden.“

Egal wie, als Romanfigur sind Frau Sorgedahl und die anderen Personen sehr lebendig. Und Lars Gustafsson erbringt mit diesem Roman den Beweis, dass intelligente Literatur und Unterhaltung keine Gegensätze sind, sondern aufs schönste harmonieren können.

Ein Wort noch zur Übersetzung von Verena Reichel. Sie liest sich flüssig und sehr angenehm, nur bei den Realien hätte mehr Genauigkeit nicht geschadet, denn im Deutschen heißt, um nur ein Beispiel herauszugreifen, die Lichtmaschine am Fahrrad Dynamo und nicht Generator.

Titelbild

Lars Gustafsson: Frau Sorgedahls schöne weiße Arme. Roman.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Verena Reichel.
Carl Hanser Verlag, München 2009.
240 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446232730

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