In die Jahre gekommen

Eine Neuauflage der bislang einzigen Gesamtgeschichte der NSDAP von Kurt Pätzold und Manfred Weißbecker

Von Armin NolzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Armin Nolzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Neuauflagen historischer Monografien zur Geschichte des Nationalsozialismus sind eine Gratwanderung. Die NS-Forschung ist in den letzten Dekaden in einem Ausmaß expandiert, das andere zeitgeschichtliche Felder bei weitem übersteigt. Der Umfang der bislang einzigen Bibliografie zum Nationalsozialismus hat sich zwischen 1995 und 2000 fast verdoppelt, und man wagt gar nicht daran zu denken, wie viele Bände dieses Kärrnerwerk heute, ein Jahrzehnt später, umfassen würde.

Diesem rapiden Wandel der Forschung sollte in Neuauflagen nicht zuletzt durch behutsame Ergänzungen Rechnung getragen werden. Dies gilt prinzipiell auch für das hier zu besprechende Buch, das eine wechselvolle Geschichte hinter sich hat und nunmehr – folgt man den Verlagsangaben – in dritter, verbesserter und ergänzter Auflage vorliegt. 1981 hatten Kurt Pätzold und Manfred Weißbecker, damals noch als Ordinarien an der Humboldt-Universität Berlin und der Friedrich-Schiller-Universität Jena tätig, eine Erstfassung ihrer „Geschichte der NSDAP“ unter anderem Titel in Ost-Berlin und Köln publiziert. 1998 legten sie dann eine Neubearbeitung vor, die den Forschungsstand von Anfang der 1990er-Jahre repräsentierte. Zwischenzeitlich waren beide Autoren als Protagonisten der Geschichtswissenschaft der ehemaligen DDR ,abgewickelt‘ worden und hatten ihre Lehrstühle verloren. Ihre wissenschaftliche Produktivität jedoch blieb ungebrochen, wie sich anhand vieler gemeinsamer Monografien zum Thema Nationalsozialismus zeigen lässt.

Die „Geschichte der NSDAP“ ist Pätzolds und Weißbeckers wichtigstes Werk und bis heute die einzige deutschsprachige Gesamtdarstellung dieser Partei geblieben. In ihrem aktuellen, neu hinzugekommenen Vorwort meinen beide Autoren, dass „das inzwischen Erschienene nicht zwingt, das Konzept oder die Grundaussagen unserer Darstellung in Frage zu stellen“. Daraufhin handeln sie auf 15 Seiten die neue Forschungsliteratur summarisch und ohne jeden analytischen Tiefgang ab, wofür sie 119 Endnoten benötigen; ein untrügliches Zeichen für das immense Wachstum der Forschung seit den 1990er-Jahren. Davon findet sich in den darauf folgenden 16 Kapiteln ihres Buches jedoch keine Spur: Beide Autoren haben es nicht für nötig befunden, nur einen Beistrich am Text von 1998 zu ändern.

In den ersten acht Kapiteln zeichnen sie den Weg nach, der die NSDAP binnen weniger Jahre von einer Münchener Splitterbewegung zu einer „Volkspartei des Protests“ (Jürgen Falter) werden ließ, die bei der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 mit 37,3 Prozent der Stimmen zur stärksten Reichstagsfraktion avancierte. Pätzold und Weißbecker rubrizieren diese Erfolgsgeschichte unter der Überschrift „Aufstieg zur wählerstärksten Partei des Kapitals“, und der Titel zeigt schon an, wohin die interpretatorische Reise geht. Permanent raunen sie von einer Finanzierung der NSDAP durch das Großkapital und präsentieren damit einen marxistisch-leninistischen Ladenhüter, der sich im Jahre 2009 nur noch anachronistisch ausnimmt. Empirische Belege für diese These bleiben die Autoren schuldig: Die „bürgerliche“ Sekundärliteratur, die zu diametral entgegengesetzten Ergebnissen kommt, übergehen sie stillschweigend.

Der zweite Teil des Buches behandelt dann, wiederum in acht Kapiteln, die Geschichte der NSDAP nach 1933. Diese war durch einen beispiellosen Ausdifferenzierungsprozess gekennzeichnet, in deren Verlauf sich neben der Politischen Organisation (P.O.) als Kern der Partei so riesige bürokratische Apparate wie die Deutsche Arbeitsfront, die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt und die Hitler-Jugend etablierten, deren Mitgliederzahl zu Kriegsbeginn im zweistelligen Millionenbereich lag. Zwar erwähnen die Autoren diese Gliederungen und angeschlossenen Verbände der NSDAP, in deren Gesamtapparat 1939/40 fast zwei Drittel der im Deutschen Reich lebenden Bevölkerung organisiert waren. Deren Herrschaftspraxis, Mitgliederintegration und Mitgliederlenkung erörtern sie aber nicht. Im Grunde genommen belassen sie es bei einer Analyse der P.O., die aus der Vogelperspektive zentraler Protagonisten und Dienststellen geschildert und deren regionale und lokale Diversifizierung kaum mehr berücksichtigt wird.

Zu Recht kritisieren beide Autoren die „Polykratie“-These, derzufolge die NSDAP letztlich in einem permanenten Kampf aller gegen alle aufgerieben worden sei. Gleichzeitig bleiben sie jedoch dem weithin überholten Denkmodell einer „Staatspartei“ verhaftet, das in der NSDAP nichts anderes als eine Organisation zu erblicken vermag, die „keinerlei von der Staatspolitik abweichende Interessen oder Ziele“ verfolgt habe. Die fundamentale (und erklärungsbedürftige) Paradoxie der NSDAP nach 1933 bestand darin, institutionell von der staatlichen Verwaltung getrennt und personell durch vielerlei Personalunionen auf der leitenden Ebene mit ihr verschmolzen zu sein. Die analytische Einordnung dieses Sachverhaltes ist die wohl wichtigste Aufgabe, der sich die NSDAP-Forschung zu stellen hat.

Die Bilanz des vorliegenden Buches fällt insofern zweispältig aus. Auf der einen Seite ist beiden Autoren der Verdienst zuzusprechen, den Hitler-Zentrismus schon früh überwunden und die Verantwortung für die verbrecherische Politik des NS-Regimes auf breitere Schultern gelegt zu haben, als es die Forschung lange Zeit vermochte. Auf der anderen Seite zerfließt ihre Studie tendenziell in eine Aneinanderreihung von Fakten, die von keiner analytischen Klammer zusammengehalten werden. Es fehlt ein methodisches Raster, um die Überfülle des Materials sowohl ordnen als auch interpretieren zu können. Angesichts der expandierenden Forschung zur Geschichte der NSDAP ist Pätzolds und Weißbeckers Buch merklich in die Jahre gekommen, und es stellt sich die Frage, ob eine grundlegende Neubearbeitung nicht sinnvoller gewesen wäre. Als Einstieg in die Thematik ist es allerdings unverändert von Wert, denn es erinnert an eine oft leichthin vernachlässigte Binsenweisheit: Wer von der Geschichte des „Dritten Reiches“ redet, darf von der NSDAP nicht schweigen.

Titelbild

Kurt Pätzold / Manfred Weißbecker: Geschichte der NSDAP. 1920 bis 1945.
PapyRossa Verlag, Köln 2009.
570 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783894384067

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