Das Reden des Müller

Die gesammelten Gespräche des Dramatikers Heiner Müller sind in drei Bänden erschienen

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich bin da wahrscheinlich viel zu sehr Schauspieler und deswegen ungeheuer abhängig von dem Interviewpartner“, meinte Heiner Müller in einem seiner zahlreichen Gespräche mit Alexander Kluge, „und da gibt’s eben Leute, wo ich völlig mechanisch werde oder keine Lust habe“. Damit ist die Charakteristik seiner Interviews, die nun in drei umfangreichen Bänden vorliegen, in mehrfacher Hinsicht bezeichnet.

Zunächst fällt auf, dass die Gespräche von einer schätzenswerten Diskretion sind, jedenfalls was Müller selbst angeht; manch anderer wird anekdotisch abgefertigt. Über Müller erfährt man an Privatem nur, was gesellschaftlich bedeutsam ist. Wenn er, wiederum im Gespräch mit Kluge, beschreibt, wie ein Arbeitstag an der Ost-Akademie der Künste aussah, die Müller als Präsident 1990-93 abwickelte, geht es nicht darum, einen indiskreten Blick auf einen bedingt Mächtigen zu erhaschen. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, wie eine Person in einer Institution funktioniert. Und noch Fragen nach Krankheit und Tod in den letzten Gesprächen zielen auf Allgemeingültiges, nicht auf die Befriedigung voyeuristischer Interessen.

Da kann es auch geschehen, dass Müller, bei schlechter Laune, Zudringlichkeiten abblockt. Auf die Frage: „Haben Sie in der Todesnähe etwas bereut oder noch einen letzten Wunsch?“ reagierte Müller mit der Gegenfrage: „Noch einen Whisky?“ Dieses Gespräch von 1995, schließlich unter dem Titel „Das Schweigen des Müller“ publiziert, ist denn auch eher eine Gesprächsverweigerung: Müller antwortet auf ausführliche Fragen einsilbig, gähnt und schläft gar ein, um am Ende aufzuwachen und ein enigmatisches Gedicht von Ezra Pound vorzutragen.

Das wirkt wie ein Sich-Entziehen und bot doch gleichzeitig eine weitere Chance, sich als öffentliche Person zu inszenieren – die Müller-Figur mit Zigarre, Whisky-Glas und raunender Katastrophenverheißung, wie sie in seinen letzten Lebensjahren prototypisch auf Kluges dctp-Programm zu sehen war. Das Muster war gefestigt genug, um sogar in Publikationen ironisiert zu werden: „Die Müller-Maschine angeworfen und bei Laune gehalten“ heißt es im Untertitel eines ausführlichen Gesprächs für „literatur konkret“ 1990 / 91, das unter einem auf den Ausnahmezustand fixierten Haupttitel erschien: „Stalingrad interessiert mich mehr als Bonn“.

Den erfolgreichen Schauspieler zeichnet ein fester Charakter bei gleichzeitiger Wandlungsfähigkeit aus. Müller inszenierte sich selbst als ungreifbar und betonte immer wieder, dass er auf Inhalte in seinen Gesprächen nicht festgelegt werden wolle und er beim nächsten Interview, in der nächsten Situation, vielleicht etwas ganz anderes erzählen würde. Pragmatisch zeigte er sich 1993, als er in Verdacht geriet, inoffizieller Mitarbeiter der Stasi gewesen zu sein. Auch auf stereotype Verdächtigungen reagierte er nun durchgehend freundlich – wohl weil damals die Gefahr bestand, bei bestätigtem Verdacht aus dem Kulturgeschäft ausgeschlossen zu werden. Dass sich Müller als Analytiker der Macht etabliert hatte, erlaubte es ihm freilich, bloße Kontakte mit dem Geheimdienst als zweckgebunden und notwendig zu erklären. So funktionierte sein Vorgehen und er erlitt, anders als die Moralistin Christa Wolf, keine dauerhaften Nachteile.

Was er sagte, war durchaus plausibel, doch hätte dies allein in der aufgeregten Kampagnenstimmung, in der damals jeder Stasi-Verdacht hochgespielt wurde, wenig geholfen. Müllers Ansehen wurde kaum beschädigt, weil er flexibel von einem passenden Rollenbild aus agieren konnte.

Diese Rolle ist eine, die er vor allem im letzten Jahrzehnt seines Lebens entwickelt hat. Die Gespräche bis 1986 füllen gerade zwei Drittel eines Bandes, die der Spätzeit dagegen mehr als zwei Bände. Als 1987 der fünfte und letzte Teil der „Wolokolamsker Chaussee“ vorlag, war Müllers Theaterwerk eigentlich beendet – die späte Szenenfolge „Germania 3 Gespenster am Toten Mann“ ist nur peinlicher Nachklang. In den Interviews dieser Zeit betonte Müller immer wieder, dass er schreiben wolle und werde. Doch tatsächlich inszenierte und gruppierte er seine alten Texte immer wieder neu, administrierte er als Akademiepräsident und in der kollektiven Leitung des Berliner Ensembles, und sprach oder schwieg er eben in unzähligen Interviews. Man kann sein Schauspielern als Theaterersatz deuten: Wer kein Drama mehr zu schreiben vermag, macht sich eben selbst zur Hauptfigur eines solchen. Dass die Versuchung groß ist, liegt an einem Kulturbetrieb, der auf die Person fixiert ist statt aufs Werk, und zuletzt an einem Umgang mit Theater, der die Inszenierung betont und das Drama geringschätzt. Insofern sind die drei gewichtigen Gesprächsbände, was immer in ihnen an Richtigem und Erhellendem ausgesagt ist, Dokumente eines Niedergangs.

Das für die frühen Jahre lückenhafte Material bringt es mit sich, dass eine Entwicklung Müllers nur schwer nachzuvollziehen ist. Das gewichtigste Gespräch am Beginn seiner Karriere, zu „Der Bau“ und zu „Philoktet“, wurde 1966 in der DDR in „Sinn und Form“ veröffentlicht und steht unklar zwischen notdürftiger Rechtfertigung und ernsthafter politischer Diskussion. Viel später hat Müller diesen Text als allein taktisch bedingt verworfen. Mehrere, bislang teils unveröffentlichte Gespräche, die die Herausgeber aufgenommen haben, widersprechen Müllers Selbstinszenierung aus der Nachwendezeit wahlweise als unpolitisch oder als Feind der DDR. Besonders die ausführlichen, zuvor nicht publizierten Gespräche mit Gottfried Fischborn und Gerda Baumbach von 1974 und 1976 zeigen einen Autor, der trotz vieler Misshelligkeiten mit der Staatsmacht darauf beharrt, einen Beitrag zur Entwicklung einer sozialistischen Gesellschaft zu leisten. Der Bruch kam später – man darf böse vermuten: als Müller erkannte, dass den linken Dissidenten die bessere Karriere winkte.

Die Edition ist von großem Wert, wo sie durch neues Material eine genauere historische Einschätzung erlaubt. Es ist nachvollziehbar, dass nicht alle in Zeitungen veröffentlichen Interviews aufgenommen werden konnten. Doch sind die Kriterien unklar: Dass Müller eine „Offenheit und Konsequenz des Diskurses nicht abverlangt wurde“ – so das in einer editorischen Notiz begründete Ausschlusskriterium der Herausgeber – trifft auch auf manche der abgedruckten Gespräche zu. Ebenfalls finden sich, wie zitiert, Fälle von Diskursverweigerung, seien sie durch stereotype Fragen oder durch eine schlechte Tagesform begründet. Wenn sie auch nichts erhellen, so beleuchten sie doch die öffentliche Figur Heiner Müller. Die Auswahl unterlag also einer kaum vermeidbaren Willkür, die man wohl akzeptieren muss.

Zwar gilt nur für die Minderzahl der Gespräche, dass sie, wie der Herausgeber Frank Hörnigk in einer „editorischen Notiz“ meint, „in ihrer Eigensinnigkeit in die Dichtung zu treiben“ beginnen. Doch sind es gerade jene, die „Spielformen Müllers im Umgang mit den neuen Medien“ sind. Das gilt insbesondere für Müllers Auftritte in Kluges Nachtprogrammen, die gerade deshalb in der vorliegenden Druckfassung zuweilen zusammenhanglos wirken. Einstellungswechsel und Schrifttafeln, die im Bildmedium immerhin für ein Minimum an Orientierung sorgten, sind im Druck nur inkonsequent wiedergegeben. An einigen Stellen hätte man sich hier einen ausführlicheren Kommentar gewünscht oder zumindest den Hinweis, dass ein Teil der Gespräche mit Kluge im Internet zu sehen ist.

Dass die Kommentierung zu knapp ist, gilt für die gesamte Edition. Die Anmerkungen beschränken sich auf Gesprächsdatum, bisherige Publikationen und Textvarianten, allenfalls sind noch einige Umstände der Gesprächsführung genannt. Sacherläuterungen fehlen. Man könnte einwenden, dass ein umfangreicher Apparat das Konzept der Werkausgabe, die die „Gespräche“ beschließen, gesprengt hätte und dass ein solcher Anmerkungsapparat viele Monate, wenn nicht Jahre zusätzlicher Arbeit gekostet hätte. Doch kommen mittlerweile Studierende an die Universität, die im Jahr der Wende geboren sind und für die vieles Erwähnte ferne Vergangenheit sein muss; zudem ist eine vergleichbar umfangreiche Ausgabe von Müllers Gesprächen auf lange Zeit nicht mehr zu erwarten. Der Gebrauchswert der Ausgabe wäre entschieden höher, hätte man eine solch triviale Mühe nicht gescheut. So aber bleiben die Äußerungen eines wichtigen Dramatikers, der zuletzt fast allein noch Geschichte denken konnte, merkwürdig geschichtslos.

Titelbild

Heiner Müller: Werke Band 10: Gespräche 1. 1965-1987.
Herausgegeben von Frank Hörnigk.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
863 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783518420430

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Heiner Müller: Werke Band 11: Gespräche 2. 1987-1991.
Herausgegeben von Frank Hörnigk.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
1000 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783518420447

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Heiner Müller: Werke Band 12: Gespräche 3. 1991-1995.
Herausgegeben von Frank Hörnigk.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
957 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783518420454

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch