Zeckenalarm

Der Wilsberg-Erfinder Jürgen Kehrer versucht sich am Politthriller

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Politthriller lebt von einer Reihe von Besetzungsvarianten, unter ihnen der korrupte und machhungrige Rechtspopulist als Politiker und der Underdog mit schlechten Erfahrungen und Karriereknick als Ermittler. Dass zivile Gesellschaften zu müde und zu wenig wehrhaft sind und statt auf Gewalt auf das Gespräch setzen, wird ihnen seit der Zeit der Burgunden vorgeworfen – ein junger Mann namens Siegfried hatte seinerzeit einige Mühe, sich daran anzupassen.

Seitdem sind einige hundert Jahre vergangen, und die Verhältnisse sind nicht einfacher geworden. Vor allem haben sich die Waffen, mit denen gekämpft wird, geändert. Statt mit Schwertern berkriegen sich die Kombattanten mit Nuklearwaffen – und weil alle wissen, welche Konsequenzen das haben kann, sind sie damit bislang noch recht zurückhaltend.

Das aber hat einige weit reichende Auswirkungen, und an sie kann Jürgen Kehrers Entwurf ansetzen: Nicht mehr reden, statt zu handeln, keine Kompromisse mehr, sondern klare Ansagen, wie was geregelt werden soll, endlich die Kraft zeigen, die wirklich in einem steckt – das ist ein Konzept, das unter den Bedingungen der modernen Welt nicht greift. Für Leute, die klare Verhältnisse wollen, ist dies ein Gräuel – und es ist interessant, dass Kehrer gerade an dieses Muster anschließt.

Der Fall selbst ist in seiner Anlage konventionell: Zwei Außenseiter werden miteinander verkuppelt, damit sie die Welt, die Bundesrepublik oder auch nur die Politik, wie wir sie gewöhnt sind, vor einer Gruppe skrupelloser Rechtspopulisten retten, die mit genmanipulierten Viren den Staatsmännern die Skrupel nehmen und damit diplomatischen und kompromissbasierenden Lösungen das Rückgrat brechen wollen.

Die Mutation eines von Zecken übertragenen Virus nimmt Menschen die Angst. Er kehrt bei ihnen die Wünsche und Bedürfnisse hervor, die in ihnen verborgen sind und die ihr Handeln motivieren: der Wunsch zu fliegen, die Lust auf Sex, die Begierde zu töten. Angst vor den Konsequenzen haben die Betroffenen nicht mehr. Warum also nicht das tun, was ihnen seit langem der tiefste Wunsch ist?

So kommt es zu einer Reihe von Vorfällen, bei denen die Infizierten auf merkwürdige Weise zu Tode kommen oder sonst Dinge tun, die sie sonst nie wagen würden, wie zum Beispiel der Weihbischof, der öffentlich eingesteht, den Glauben verloren zu haben. Eine Mikrobiologin und ein strafversetzter Polizist kommen der Sache auf die Spur und decken ein Komplott auf, das bis in die höchsten Ämter der deutschen Politik reicht und das ein Gipfeltreffen der G9-Staaten zum Ziel hat.

Selbstverständlich müssen sie sich nach kurzer Zeit mehr ihrer eigenen Leute erwehren als der wahren Feinde, sie geraten zwischen die Fronten, und müssen sich dessen gewahr werden, dass die für das Komplott Verantwortlichen selbst im Apparat sitzen, der eigentlich der Strafverfolgung gerade solcher Täter dient.

Selbstverständlich decken sie – nach einigem Hin und Her und dem mittlerweile standardmäßigen Überraschungseffekt – den ganzen Betrug auf und retten damit das Abendland und seine Vertrauenswürdigkeit. Aber selbst wenn die Wendungen, die die Geschichte zum Schluss bekommt, überraschend genug sind: Das Muster ist bekannt, aber sorgt dennoch für ausreichende Unterhaltung.

Bleibt nur über die Wirkung zu reden oder besser über die Metaebene, denn Kehrers Krimi ist eben auch als kleine Fallstudie experimenteller Natur, könnte man sagen, zu lesen, wohin der Unbedingtheitsgestus diejenigen treiben kann, die sich damit nicht abfinden wollen, dass klare Verhältnisse nicht mehr zu haben sind. Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, vom Ersten Weltkrieg über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust, über die Vertreibungen und Schauprozesse in der Sowjetunion bis zum kambodschanischen Pol Pot-Regimes haben das bewiesen (neben anderem, wie dem Beweis der unbedingten Grausamkeit der Gattung Mensch gegen sich selbst).

Auf banalerer Ebene kehren solche Motive wieder, ohne dass hier bessere Lösungsvorschläge angeboten würden. Immer dann, wenn sich jemand daran macht, eine Lösung zu finden, entsteht die nächste humanitäre Katastrophe.

Und so ist auch in diesem Krimi vor allem viel von der Instanz die Rede, die uns daran hindert, in immer dieselben Fehler zu fallen. Neben der Erfahrung ist dies die Angst, die das Handeln der Menschen leitet. Sie ist insofern ein rationales, Handlung steuerndes Moment, als sie Menschen daran hindert, etwas zu tun, was sie schließlich vernichten würde. Das aber überträgt Kehrer aufs große Ganze: Was auf der Ebene der handelnden Figuren als Befreiung mit Nebenwirkungen erscheint, die Abwesenheit von Angst, gerät auf der politischen Ebene zum unkalkulierbaren Risiko.

Titelbild

Jürgen Kehrer: Fürchte dich nicht. Roman.
Grafit Verlag, Dortmund 2009.
332 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783894256616

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