Metasemiotik und Systemreferenz im Literarischen Realismus

Claus-Michael Orts anspruchsvolle Studie "Zeichen und Zeit"

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Erforschung des Literarischen Realismus ist durch die einseitige Akzentuierung der Umweltreferenz charakterisiert. Den Versuch einer Neubestimmung von Umwelt- und Systemreferenz unternimmt der Kieler Privatdozent Claus-Michael Ort in seiner Dissertation "Zeichen und Zeit. Probleme des literarischen Realismus". Methodisch wird die Fragestellung seiner Arbeit von grundlegenden system- und zeichentheoretischen, sozialgeschichtlichen und wissenssoziologischen Erkenntnissen geleitet und bestimmt. Für die Realismusforschung, die sich lange Zeit nicht aus einem erkenntnishemmenden Circulus Vitiosus zu befreien vermochte, der das Realismusproblem als Problem der Beziehung von Literatur zur "außerliterarischen Realität" definierte, bedeutet diese Studie eine wichtige Weichenstellung. Denn das Problem der Beziehung von Literatur zur außerliterarischen Realität ist obsolet; hingegen ist die Problemstellung, die literaturintern repräsentierte Beziehung von Literatur zur außerliterarischen Realität zu untersuchen, ein Desiderat der Forschung. Dies ist umso bedeutsamer, als im Realismus das historisierende Erzählen besonders häufig auftritt und danach zu fragen ist, wie im Realismus "Geschichte" repräsentiert wird, wie er kollektive und individuelle Vergangenheiten thematisiert und welche "semiotischen Modalitäten der Präsenz des temporal Absenten" er präferiert.

Claus-Michael Ort vollzieht in seiner Studie genau diesen unscheinbaren, aber entscheidenden Schritt: Er fragt nicht nach dem Verhältnis dargestellter Geschichte zur außerliterarischen Realität, sondern nach der textinternen "Semiotik", sprich der Differenz von dargestellten Zeichen und dargestellten Referenten. Erfreulich rasch steigt er dabei in die konkrete Textanalyse ein und rekonstruiert zunächst die Sprechsituation von Theodor Storms "Der Schimmelreiter" (1888). Behandelt werden die drei im Discours verschachtelten Erzählsituationen, ferner die stark optisch kodierte Kommunikation und die sprachliche Sozialisation der Hauptfigur, ferner die Tendenz, durch Aberglauben, raum-zeitliche Grenzphänomene und eine extreme Wahrnehmungswillkür Hauke Haiens einen "Überschuß an Semiose" herbeizuführen.

Das Textkorpus des Untersuchungszeitraumes (1850 bis 1900) wird als "relative Synchronie" behandelt. Vom "Schimmelreiter" geht Ort zur Analyse von Gottfried Kellers "Der grüne Heinrich" (1879/80) und Theodor Storms "Aquis submersus" (1876) über, zwei weiteren Texten mit Rahmen-Binnen-Strukturen, die am Beispiel des "Meretleins" bzw. des Bildnisses eines "toten Kindes" das Verhältnis similarer Repräsentanten zu vergangenen Realitäten thematisieren. Ort kann zeigen, dass Texte des Realismus dazu tendieren, mimetischen Zeichen "nicht-similare (kontige) Zusatzbedeutungen" zu verleihen und die Zeichenkomplexe "in nicht-ikonische, sprachliche Deutungskontexte" zu integrieren. Sacher-Masochs "Venus im Pelz" (1869), Felix Dahns "Ein Kampf um Rom" (1876), Wilhelm Jensens "Versunkene Welten" (1882) und Fontanes "Schach von Wuthenow" (1882) sind dafür weitere Beispiele.

Die zahlreichen Kunst- und Maler-Texte des Korpus illustrieren den Aspekt der Metasemiotik, insofern er an die permanent und variantenreich thematisierte und zugleich von der Literatur perhorreszierte Ikonizität/Visualität/Similarität gebunden ist: Die Gefahren der Bilder werden realistischer Epistemologie entsprechend (und Jakobsons These von der literaturgeschichtlichen Zuordnung von Metapher/Similarität und Metonymie/Kontiguität folgend) vor allem durch kontige und schriftbasierte Zeichenkonstitution gebannt - ein letztes Aufbäumen dieser Art von Literatur am Ende des Jahrhunderts und im beginnenden Film-Zeitalter.

An strategisch geschickter Stelle demonstriert Ort die textintern dargestellte Funktionsweise der Zeichen, die ›individuell‹ funktionierende oder scheiternde Semiotik realistischer literarischer Zeichenkomplexe. Der hohe theoretische Anspruch überzeugt hier ebenso wie die enge Textbezogenheit der methodischen Schrittfolge (Visualität und Ikonizität - Similarität - semiotische Funktionalität - Kontiguität), die nicht von einer abstrakten "realistischen Semiotik" ausgeht, sondern die Zeichenkonzeption aus der konkreten Textanalyse abstrahiert.

Spannend wird es noch einmal, wo Ort auf die Aporien der realistischen Epistemologie zu sprechen kommt. Diese Aporien, die systemintern nicht mehr bewältigt werden können, führen zu teils fantastischen, teils okkulten Phänomenen in der Literatur der Frühen Moderne oder zu Traum-Erzählungen wie Jensens berühmter "Gradiva" (1903), jenem "pompejanischen Phantasiestück", das bereits Freud interpretierte. Ort kann zeigen, wie in diesen Texten "psychopathologische und okkulte Selbstdeutungen zunächst wirklichkeitsnäher anmuten als `realistische´".

Titelbild

Claus Michael Ort: Zeichen und Zeit. Probleme des literarischen Realismus.
Verlag?, Tübingen 1998.
252 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3484350644

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