Zum Mythos des heiligen Autors

Martina King untersucht, wie das „Gesamtkunstwerk“ Rainer Maria Rilke funktioniert

Von Gabriela WackerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gabriela Wacker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Passend zum neuerwachten Interesse am Autor Rainer Maria Rilke, über den 2008 im Rowohlt Verlag eine Monografie von Gunter Martens und Annemarie Post-Martens und 2009 im Arche Literatur Verlag eine Biografie von Fritz J. Raddatz erschienen sind, liegt nun eine wissenschaftliche Studie der Literaturwissenschaftlerin Martina King vor, die Rilkes Dichterbild als ‚heiliger Autor‘ perspektivenreich auslotet: In den Mittelpunkt ihrer Untersuchung rückt King die sozialpraktische Dimension von Rilkes Autorschaft, insbesondere die Funktionen seiner sakralen Selbststilisierung und seiner ebenfalls durch unzählige Briefe initiierten „Gemeindekonstitution“, im Ganzen seine ‚feldspezifische Laufbahn’ als ‚heiliger Autor‘ unter Bezugnahme auf Pierre Bourdieus ‚Feldtheorie‘. Ihre Leitfrage lautet: Wie funktioniert der Autor Rilke und welche „immanente Logik“ liegt seiner Selbstinszenierung zugrunde?

Zweifelsohne bereichert King mit dieser Fallstudie die sozialwissenschaftliche Autorforschung. Denn eine konzentrierte und breit gefächerte Befragung der sozialen Wirksamkeit eines Schriftstellers samt seines Autorschaftsbildes, etwa fokussiert auf die Alltagspraxis des Literaturbetriebs und des sozialen Umfelds – hier von Rilke als Pilger und Prophet – ist bisher eine Rarität. Neben ihrer sozialpraktischen Fragestellung geht sie zudem konsequent und wohltuend über Bourdieus sozialwissenschaftliche Beschreibungskategorien hinaus: Sie macht es sich zur Aufgabe, einen Brückenschlag zwischen (historischer) Semantik und Soziologie zu bewerkstelligen, indem sie aufzeigt, wie werkzentrierte, semantik- und semantikgeschichtliche Aspekte, also ein philologischer Zugriff, und (gruppen-)soziologische Zugangsweisen wie Distinktions- und Positionierungsfragen unter Einbeziehung sozialgeschichtlicher Kontexte sich mit Blick auf Rilkes Autorschaftskonzept gegenseitig zu erhellen vermögen.

Ihre etwa 400 Seiten umfassende Studie gliedert sich in zwei Hauptteile. Während im ersten, kürzeren Teil hauptsächlich das Konzept heiliger Autorschaft um 1900 umrissen wird, beschäftigt sich der zweite, umfangreichere Hauptteil – und dies ist der forschungsinnovativere von beiden – speziell mit Rilkes Autorschaftskonzept.

Zunächst umreißt und resümiert King Fundamente heiliger Autorschaft in der Moderne aus ökonomischen und ideengeschichtlichen Blickwinkeln, die in einen Vergleich der beiden prominenten vates-Dichter, Stefan George und Rilke, mündet.

Ausgehend von historischen Voraussetzungen und soziokulturellen Kontexten um 1900 konstatiert King eine „Krise des Autors“, die mit einer zu der Zeit virulenten „Krise des Individuums“ und einer allgemeinen Verunsicherung (Sprachskepsis) einhergehe. Insbesondere die Buchmarktpluralisierung fördere einen Konkurrenz-, Behauptungs- und Originalitätsdruck, wonach ein Streben nach Selbststilisierungen und nach Gruppenbildungen freigesetzt werde: Sakrale Autorrollen wie Priester, Prophet und Heiliger manifestierten den Rückzug einzelner Autoren aus dem schnelllebigen, mitunter lyrikfeindlichen Literaturbetrieb gemäß dem Programm eines schriftstellerischen „Separatismus“. Unter dem Stichwort „Kunst als Religionsersatz“ verweist King ideengeschichtlich nebenbei unter anderem auf Friedrich Nietzsches Vorreiterrolle in der Verabsolutierung von Kunst und Künstler, die den Nährboden für sakrale Autorschaft mit Exzeptionalitätsanspruch bilde.

Dass die Separation einzelner Autoren, verstanden als Abstinenz von Gesellschaft und Literaturbetrieb, graduelle Abstufungen kennt, bemerkt sie in ihrer Gegenüberstellung von Rilke und George. Letzteren bemüht sie als kontrastive Folie zu Rilke, um diesen als relative Größe mit Bezug auf einen konkurrierenden Autor zu verhandeln.

Dementsprechend erfährt George lediglich eine soziologische und rudimentäre Aufmerksamkeit. King schöpft aus der reichlich vorhandenen soziologisch ausgerichteten Forschungsliteratur zu George, ohne Einbeziehung seiner Lyrik: Georges „reinen Separatismus“ führt die Autorin auf seine Ablehnung des Marktes zurück, genauer auf seine Ausblendung des Warencharakters von Kunst. Rilke sei hingegen tendenziell als Mischtyp zwischen „Integration“ und „Separation“ zu klassifizieren, da er zwischen „heiliger Enthaltsamkeit“ und Marktkonformität (im Sinne einer Kooperation mit Kultur- und Individualverlegern) changiere: So sieht sie in Rilke einerseits den „Solitär“, andererseits den als Briefeschreiber beeindruckenden „Netzwerker“. Während er sich körperlich entziehe, trete er brieflich in Erscheinung – so ihre Hauptthese, die sie im zweiten Teil weiter untermauert. Das Konstrukt heiliger Autorschaft bedürfe nämlich einer zustimmenden ‚Gemeinde‘. Damit erweisen sich Rilkes Distinktionsstrategien wie Marginalisierung, Singularisierung und Nobilitierung nicht nur als „Exodus aus der Gesellschaft“, sondern auch als „Projekt eines identifikatorischen Einbezugs des sozialen Umfeldes“.

Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen George und Rilke in ihrer Selbststilisierung erörtert King unter Bezugnahme auf die Kernkategorien „Gesamtkunstwerk“, „Vates-Rolle“ und „Jüngergemeinde“. Unter dem von Wolfgang Braungart mit Blick auf George etablierten Terminus „Gesamtkunstwerk“ resümiert King den Forschungskonsens, dass Leben beziehungsweise Autor und Werk, Soziales und Ästhetisches bei ‚heiligen Autoren‘ eine Einheit bilden, ja dass es spezifisch modern sei, das Leben als Kunstwerk zu gestalten, das heißt das eigene Selbst über poetische Textwelten hinausgehend zu ästhetisieren.

Die überschrittene Grenze von Ästhetischem und Sozialem befragt sie nun schwerpunktmäßig auf ihre soziale Funktion hin. Rilkes vates-Autorschaftsmodell sei im Gegensatz zu demjenigen Georges als Priester flexibel, suggeriere eine „autoritätslose Autorität“, da er einerseits „Selbstverkleinerungen“ formuliere, andererseits zugleich an seinem ins Sakrale überhöhten Selbstbild festhalte. Ferner verzichte Rilke im Gegensatz zu George auf Hierarchien in seiner „Briefgemeinde“, die eine Summe „vieler selbstbewusster Einzelner“, zudem Vertreter der gesamten Klassengesellschaft, versammle. Kurz: Rilkes Distinktion geht nicht in der reinen Opposition eines George auf, sondern bietet im Briefverkehr zahlreiche „Anschlussmöglichkeiten“ und „Identifikationsangebote“.

In einem zweiten Hauptteil widmet sich King ganz dem vates-Dichter Rilke, seiner Soziologie und Semantik von Autorschaft, einmal als Mönch in seiner Frühphase ab 1900 und ein andermal als Prophet in seiner darauf folgenden Phase im Umkreis der „Neuen Gedichte“.

Besondere Aufmerksamkeit schenkt King dem Medium Brief: Anhand ausgewählter Schreiben Rilkes (an Clara Westhoff, Franz Xaver Kappus, Lou Andreas-Salomé, Ellen Key, Katharina Kippenberg, Anton Kippenberg, Marie Taxis und anderen), die sie als Medium seiner literarisierten Selbstinszenierung zu einer religiös codierten Autorschaft und damit auch als Katalysator für seine Gemeindebildung versteht (Gemeinde verstanden als „Hybrid zwischen Gruppe und Netzwerk“), zeigt sie auf, wie Rilke in unzähligen Briefen ‚Gruppenverträge’ zwischen heiligem Autor und Rezeptionsgemeinde aushandle.

Die „gemeinsame Arbeit am Autor“ laufe über einen von allen genutzten neureligiösen „Sacralcode“. Das besondere am Briefmedium und an Rilkes Briefkommunikation erkennt King in der dort artikulierten „Nähesuggestion“, wenn der ständig reisende Autor immer wieder aus der Ferne Präsenz verspreche, in der der Briefform eigenen „Mündlichkeitsillusion“ und in deren Funktion als ‚materielles Autor-Archiv‘, das für die Langlebigkeit seines Mythos sorge. Dass es sich bei Rilkes Konstruktion heiliger Autorschaft um einen kooperativen Prozess, eine Dialogizität mit den Briefadressaten handelt, die letztlich auf einen gegenseitigen Prestigegewinn, eine Art ‚Tauschhandel‘ abzielt, ist Kings innovativer Blickwinkel: Der Briefempfänger ist nach King „Erwählter“, er empfange eine „Adressatenweihe“, und indem er Rilkes heiliges Autorschaftsbild im Antwortbrief bestätige und ihm dadurch Charisma zuschreibe, werde er selbst geradezu zum ‚Co-Heiligen‘.

Derart kompensiere der Auratiker Rilke seine Literaturbetriebsabstinenz und sichere sein ‚Sozialkapital‘ im paradoxen Status des „integrierten Solitärs“. Um jene Vielzahl an Mäzenen, Mentorinnen, Verlegern, Künstlerkollegen und intellektuellen Freundinnen, mit denen Rilke brieflich verkehrt, zu sortieren, rekrutiert King „Funktionsklassen“ wie etwa „Lebensabschnittspartnerinnen“ oder „männliche Mäzene“.

Dass Rilke unterschiedliche Karrierephasen mit unterschiedlichen Autorrollen durchlaufe, zeige sich an seinen laufbahnbedingten Rollenwechseln: Das Autorschaftsbild von Rilke als „heiligem Mönch und Mystiker“ dominiere seine „Durchsetzungsphase“, in der er als Anfänger ‚symbolisches Kapital‘ erwerbe. Sein Wandel zur Propheten-Rolle sei seiner darauf folgenden „Konsolidierungs- und Konsekrationsphase“ zuzuordnen. Wie Rilkes „Stundenbuch“ mit seinem spezifischen Künstler- und Autorvokabular vor allem des zeitgenössischen Franziskus-Diskurses, mit seinen Bildern künstlerischer Einsamkeit, Armut, Demut, stiller Gebetshaltung und mit vitalistischen Wasser- und Fließmetaphern als Modell für Rilkes „leise Anfänge“ ab 1900, das heißt seinen ersten auktorialen Selbstentwurf als Mönch fungiert, so die Prophetengedichte in den „Neuen Gedichten“ mit exemplarischen Figuren wie Josua sowie dominanter Elementarkraft-, Sturm- und Inspirationssemantik als Vorlage für seine epistolare, nunmehr eruptive und expressive Propheten-Rolle, die ab etwa 1910 dominiere und bis in Rilkes „Elegien“-Zeit fortwirke.

Zwischen fiktionaler und brieflicher Autorsemantik konstatiert King ein „Fließgleichgewicht“, eine wandernde Semantik zwischen Dichtung und Briefwerk, die einer „Entdifferenzierung von Autor und Werk“ zuarbeite. Beiden Rollen – Mönch und Prophet – sei die für Rilke typische „Komplementarität von Selbsterhöhung und Selbstverminderung“ eingeschrieben, die sich nicht zuletzt in einer minimierten Autor-Autorität zugunsten einer gesteigerten Textautonomie spiegele.

Das Nachwirken von Rilkes brieflicher Selbststilisierung zeigt King abschließend mittels einer Analyse posthumer Mythenbildung und langlebiger Rilke-Klischees in der Memorialliteratur (etwa von Lou Andreas-Salomé, Elisabeth von Schmidt-Pauli, Katharina Kippenberg, Jean von Salis und anderen), die durch Trivialisierung, Umschreibungen im eigenen Interesse, Potenzierungen von Rilkes Selbstentwürfen und Stereotypisierung geprägt sei.

Das Verdienst von Kings Rilke-Studie liegt sicherlich in der gründlichen Aufbereitung des riesigen Rilke-Briefwerks mit semantischer und soziologischer Lupe, die erstmals auch die Adressaten-Funktionen gebührend berücksichtigt. Die Reduktion rein fiktionaler Texte auf ihre Funktion als Stoffquelle für das briefliche Rollenspiel Rilkes und die Fokussierung auf seinen Habitus und seine soziale Funktionen blendet indes metatextuelle und genuin poetologische Überlegungen prophetischer Rede gänzlich aus. Das würde vielleicht auch den Rahmen ihrer Arbeit sprengen. Doch spätestens hier öffnet sich wieder eine Kluft zwischen soziologischem und philologischem Zugang. Dementsprechend findet sich kein einziges in Gänze zitiertes Gedicht, auch keine exemplarische Interpretation eines zentralen Textes. Herausgegriffene Figuren und deren Bildlichkeit, schlagwortartig subsumierte Semantiken (Sturm et cetera), einmal aus lyrischen Zeugnissen und einmal aus Briefstellen filtriert, versperren den Blick auf die Artifizialität und Exzeptionalität von Rilkes Lyrik. Wünschenswert wäre eine genaue Analyse des Zusammenhangs von poetologischem Wandel und sich wandelnder Autorschaftspoetik.

Auffällig ist überdies die Ausklammerung von Rilkes an Auguste Rodin erinnerndes Arbeitsethos, das heißt von seiner Selbstcodierung als unermüdlicher Feiler und Arbeiter, die seiner Inspirationssemantik teilweise diametral gegenübersteht. Eine dezidierte Auseinandersetzung mit Rilkes Autorschaftsbildern in früheren Erzählungen (etwa „Der Apostel“) und deren Metamorphosen ist ebenso ausgespart, wie eine Reflexion auf die Rilkeschen Engels-Figuren. King beginnt ihre Untersuchung ab etwa 1900, genauer ab dem „Stundenbuch“, und endet mit einer Analyse der so genannten ‚Jubelbriefe‘ über die Fertigstellung der „Duineser Elegien“ und seiner „Sonette an Orpheus“ (um 1922).

Als Titel schiene eventuell „Mönch und Prophet“ geeigneter, da der im Titel annoncierte Pilger eigentlich unter den Oberbegriff Mönch fällt.

Trotz dieser aufgezeigten Aussparungen liegt der Wert der Untersuchung in jedem Fall darin, das in Rilkes Briefkommunikation eingeschriebene heilige Autorschaftsbild gründlich zu erhellen.

Titelbild

Martina King: Pilger und Prophet. Heilige Autorschaft bei Rainer Maria Rilke.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009.
413 Seiten, 56,90 EUR.
ISBN-13: 9783525206034

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