„Verlorene Generation“

Armin Strohmeyr geht 30 vergessenen Dichterinnen und Dichtern des „anderen Deutschlands“ nach

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In eindringlichen, informativen Kurzporträts entreißt der Germanist Armin Strohmeyr, der unter anderem Biografien über Annette Kolb, George Sand und über Klaus und Erika Mann sowie über Sophie von La Roche verfasst hat, die Schicksale von 30 deutschen Dichterinnen und Dichtern dem Vergessen. Er macht ein Dreivierteljahrhundert nach der Bücherverbrennung anhand dieser Schicksale Brüche in der deutschen Geschichte deutlich, an die es sich auch 60 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik zu erinnern lohnt. Schließlich reichen die Brüche bis in die junge Nachkriegsrepublik, als die Gruppe 47 den Ton angab.

Zwar sind die Schicksale der Dichterinnen und Dichter alle unterschiedlich, doch verbindet sie nicht nur die Tatsache, dass sie „vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten im literarischen Betrieb bereits arriviert waren und sich eines großen Interesses bei Publikum und Kritik erfreuten, sie aber heute – zu Unrecht – aus dem literarischen Gedächtnis weitgehend verschwunden sind“.

Strohmeyr gliedert sein Buch in „neun Themenkreise“, um die Autorinnen und Autoren „mit jeweils typischen Bezügen“ vorzustellen, ein Unterfangen, das ihm auch vor dem Anspruch gelingt, „die Aktualität dieser Autorinnen und Autoren“ zu „verdeutlichen. Sie haben einen Anspruch, gehört zu werden, nicht mehr ‚verloren‘ zu sein, sondern ‚wiedergefunden‘ zu werden.“

Unter der Überschrift „Cabaret und Groteske“ erinnert Strohmeyr im ersten Kapitel beispielsweise an den Lyriker Ferdinand Hardekopf, das „Talent der Extreme“. Hardekopf, der mehr als eineinhalb Jahrzehnte im verhassten Brotberuf als „Reichstagsstenograf“ arbeiten musste, „gehörte zu den meistgeschätzten Übersetzern und war in der literarischen Szene Berlins als Lyriker legendär.“ Hardekopf geht während des Ersten Weltkriegs ins Schweizer Exil, veröffentlicht sporadisch in „Dada“, kehrt 1921 für kurze Zeit nach Berlin zurück und ist an der Gründung des Kabaretts „Größenwahn“ beteiligt. Doch bald zieht es ihn mit seiner Frau Sita, die ebenfalls Gedichte verfasste, die jedoch „eher konventionell wirken“, in seine geistige Heimat Frankreich.

Er veröffentlicht nur noch sporadisch, ein „1940 auf der Flucht vor den Deutschen verlorener Manuskriptkoffer bleibt verschollen“. Sita und Ferdinand Hardekopf gehen ins Exil nach Nizza. Eine mehrmalige Internierung hinterlässt bei beiden „tiefe körperliche und seelische Narben“. Ende der 1940er-Jahre ziehen die Hardekopfs wieder in die Schweiz, fassen jedoch nie richtig Fuß, zumal finanzielle Nöte immer größer werden. Ende 1953 erleidet Ferdinand Hardekopf einen Zusammenbruch und wird in die Nervenheilanstalt Burghölzli eingewiesen, auch seine Frau muss ins Hospital: „Ferdinand und Sita Hardekopf sehen einander nicht wieder. Er stirbt am 24. März 1954 in der Nervenheilanstalt Burghölzli. Damit endet der ungleiche, lebenslange Kampf gegen die Angst, die er im Komischen zu bannen versuchte. Seine Frau stirbt ein Dreivierteljahr später, am 29. Dezember 1954, in Obhut der Freundin Olly Jacques in Carabbietta im Tessin.“

Im ersten Kapitel gilt Strohmeyrs Blick auch Emmy Ball-Hennings, der Muse im „Café des Westens“, die neben Amouren mit Erich Mühsam und Johannes R. Becher auch mit dem Grafiker Rudolf Reinhold Junghanns liiert ist und im Sommer 1914 wegen „Beischlafdiebstahls verhaftet“ wird, was Strohmeyr leider nicht genauer ausführt. Emmy Ball-Henning die morphiumsüchtige Stricherin, wird ebenso proträtiert wie Max Hermann Neise, der bucklige Zwerg, dessen Gedicht geradezu eine „Losung des deutschen Exils“ wurde: „Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen. / Die Heimat klang in meiner Melodie, / ihr Leben war in meinem Lied zu lesen, / das mit mir welkte und mit ihr gedieh. […] Doch hier wird niemand meine Verse lesen, / ist nichts, was meiner Seele Sprache spricht, / jetzt ist mein Leben Spuk wie mein Gedicht“.

Das zweite Kapitel, „der Biss der Satire“ überschrieben, gilt Franz Blei, dem „Förderer und Vermittler“, der, aus „neureichen Verhältnissen“ stammend, mit seinem immensen Werk anfangs vor allem als Pornograf wahrgenommen wird und der schließlich 1942 verarmt in New York stirbt. Strohmeyr gedenkt aber auch des mehrfachbegabten Karl Jakob Hirsch.

Kapitel drei gilt den „Lyrische[n] Jüdische[n] Stimme[n]“, nämlich Karl Wolfskehl, Paul Mühsam, Theodor Kramer und Hans Sahl, wobei vor allem an Wolfskehl und Sahl in den vergangenen Jahren durchaus wieder erinnert worden ist.

Annette Kolb, René Schickele und Otto Flake sind die Protagonisten des Kapitels „Beiderseits des Rheins“, während zu „Remarques Geschwister[n]“ für Strohmeyr Alexander Moritz Frey, dessen Werk „von abgründigem schwarzem Humor und skurriler Komik durchzogen“ wird, Kurt Hiller, Walter Hasenclever sowie Adrienne Thomas zählen.

Im Kapitel „Der Glaube an den Sozialismus“ geht Strohmeyr den Spuren von Paul Zech, Leonhard Frank und Hermynia Zur Mühlen nach. Ricarda Huch, Alma Johanna Koenig, Werner Bergengruen und Hermann Kesten sind die Autoren des Kapitels „Kritik im historischen Gewand“.

Unter der Überschrift „Die Barbarei am Pranger“ beleuchtet Armin Strohmeyr das Schicksal von Mechtilde Lichnowsky, Ernst Weiß, Ernst Wiechert, Hans Siemsen und Alfred Neumann, während im letzten Kapitel „Schöne neue Welt“ die Hollywoodkarriere von Vicki Baum und das Drehbuchschreiben der Autorin Gina Kaus vorgestellt werden.

Strohmeyr hat mit seinen Kurzporträts ein ebenso eindringliches wie nachdrückliches Plädoyer für eine Reihe ignorierter Dichterinnen und Dichter vorgelegt, das es nicht mehr so einfach erscheinen lässt, über manche Autorinnen und Autoren der jüngeren Vergangenheit ohne weiteres hinweg zu gehen. Im Gegenteil, es weckt das Bedürfnis, die Texte dieser mehr oder weniger vergessenen Dichterinnen und Dichter genauer zu lesen und vielleicht so manche Entdeckung zu machen.

Titelbild

Armin Strohmeyr: Verlorene Generation. Dreissig vergessene Dichterinnen & Dichter des 'anderen Deutschland'.
Atrium Verlag, Zürich 2008.
447 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783855357215

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