Als die Zeit stillstand

Sylvia Kabus kritisiert in ihrem Roman „Weißer als Schnee“ das Pflegesystem in der DDR

Von Manuela LückRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuela Lück

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In diesem Roman ist alles an sein Ende gekommen. Es herrscht Schweigen und Kälte. Menschen, ob jung oder alt, bewegen sich im zähen Geflecht der Zeit, die irgendwie vergeht, aber keine Erlösung, keine Hoffnung mit sich bringt. Alles verharrt im Stillstand. Wo sich nichts mehr bewegt, schweigt man. Das Schweigen frisst sich in alles und alle hinein. Die Schwächeren ziehen sich zurück, zerbrechen und geben auf. Die Anderen, die sich gegen abgedroschene Phrasen wenden und mit zynischer Zufriedenheit ihren Platz im System verteidigen, kämpfen um das Wort, um den eigenen Blick und versuchen, sich zu schützen.

Rica, die Protagonistin des Romans, hat ihre Stelle als Redakteurin gekündigt, sie hielt den Kampf um die Sprache nicht mehr aus, das Feilschen um Bedeutungen, Nuancen, das Ringen um Worte, und kehrt zu den Menschen zurück. Ihre Arbeit als Altenpflegerin reibt sie aber auch auf, denn es fehlt an allem. Nach anfänglicher Ablehnung und Zurückweisung schafft sie es, die Alten, die an die Ränder gedrängt wurden, für Momente aus ihrer Einsamkeit herauszuholen. Wird die Gesellschaft dann auf sie aufmerksam, werden sie zur sozialen Verfügungsmasse und in Pflegeheime und Krankenhäuser abgeschoben, wo sie, ihrer Würde beraubt, ihr Leben beenden.

Die bedrückende Enge und Stagnation Ende der 80er Jahre in der DDR, die einem kaum Luft zum Atmen lässt, kann man beim Lesen beinahe körperlich spüren. Kargheit, Verfall und Beschädigungen breiten sich auch auf die Sprache aus. Kein Wort ist hier zu viel. Alles ist in kurzen Sätzen auf den Kern reduziert. Mehr gibt es nicht zu sagen. Einzig die verfallenden Stadtlandschaften, als Spiegel des Selbst angelegt, werden für Momente für Rica und ihre Freundinnen zu farbigen Ausbrüchen aus der Enge, denen aber das Wissen um die Vergeblichkeit bereits innewohnt.

Es ist ein bemerkenswerter Roman, der wie kein zweiter die Stimmung in der DDR einfängt und dabei völlig auf politische Phrasen, die sowieso keine Bedeutung mehr hatten, verzichtet. Eine realistische, erschreckende Skizze einer Gesellschaft kurz vor ihrem Zusammenbruch. Es ist ein Roman der Frauen, die pragmatisch und zupackend versuchen, das Beste aus der Situation zu machen, bis auch sie keine Kräfte mehr haben, um dieses System am Leben zu erhalten. Und es ist auch ein Roman über den unwürdigen Umgang mit den Alten in der DDR. Der Text durfte zu Zeiten der Existenz des Staates DDR nicht erscheinen und wurde vom Aufbau-Verlag abgelehnt – spürte man doch zu genau das staatskritische Potential des Textes – und konnte erst durch das engagierte Projekt der Verschwiegenen Bibliothek und mit Unterstützung der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur erscheinen. Der Roman ist außerdem mit einem sehr lesenswerten Nachwort von Ines Geipel versehen.

Titelbild

Sylvia Kabus: Weißer als Schnee. Roman.
Edition Büchergilde, Frankfurt a. M. 2008.
254 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783940111494

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