Ein Dissident der menschlichen Selbstverklärung

Zum Tod von Leszek Kolakowski (1927-2009)

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Leszek Kolakowski hatte einst in seiner polnischen Heimat als Hoffnungsträger eines undogmatischen marxistischen Erneuerungsdenkens gegolten. In Warschau war er seit 1958 Professor für Philosophiegeschichte gewesen, bis er nach massiven Maßregelungen 1968 Polen verlassen hatte. Bereits 1966 war er aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen worden. Etliche seiner Werke wie „Der Mensch ohne Alternative“ (1960), „Die Gegenwärtigkeit des Mythos“ (1973) oder „Die Suche nach der verlorenen Gewißheit“ (1986) bildeten im mittel- aber auch westeuropäischen Raum Meilensteine auf dem Weg, ein modernes humanistisch-philosophisches Denken jenseits von säkularen Heilslehren und metaphysischem Obskurantismus zu entwickeln. Entsprechend unorthodox waren seine Wortmeldungen im christlich-marxistischen Dialog der späten 1960er-Jahre, indem er die Christen ermahnte, das Böse in der Welt ernst zu nehmen und andererseits den Atheisten ihr promethisches Selbstbewusstsein ankreidete. Dem aufklärerischen Projekt der Selbsterlösung des Menschen stand er fortan äußerst kritisch gegenüber.

Seit 1970 lehrte er am All Soul College in Oxford. Dort entfaltete er seine intellektuelle Neigung in einem fragenden Denken zwischen den Bereichen Philosophie und Theologie. Skepsis im Denken nahm er zu ernst, um zum Zyniker zu werden. Die Machbarkeit einer vollkommenen Gesellschaft bezweifelte er spätestens mit seinem dreibändigem Werk „Die Hauptströmungen des Marxismus“ (1976/1978).

In seinen Aphorismen „Der Himmelsschlüssel“ (1965) bewies Kolakowski, dass er neben dem wissenschaftlichen Handwerk auch einen feinen Blick für menschliche Schwächen besaß, denen er sich in subtilen, poetisch anmutenden Skizzen anzunähern verstand. Kolakowski, Jahrzehnte als Professor im akademischen Lehrbetrieb tätig, war kein Dozierer, sondern liebte die feine Ironie ebenso wie einen hintergründigen slawischen Humor. Er vermittelte Weisheit nicht als Lehre, sondern als Einsicht in ein bewusst gelebtes Leben.

In deutscher Übersetzung legte er im Jahr 2006 mit „Was fragen uns die großen Philosophen“ eine letzte Sammlung von Vorlesungen vor, die einen gewaltigen Denkparcours beschreiben. Kolakowski begann seine Aufzählung mit Sokrates, um über Platon, Aristoteles, René Descartes, Thomas Hobbes, Søren Kierkegaard, Eduard Husserl und Martin Heidegger zur heutigen Zeit zu gelangen. Sein Blick galt aber immer auch weniger populären Denkern wie Epiktet aus Hierapolis, Sextus Empiricus, Blaise Pascal oder David Hume. Mit Karl Jaspers enden Kolakowskis Porträts in dieser Sammlung. In der ihm eigenen Bescheidenheit betonte er in einer kurzen Einleitung, dass es sich bei seinen kleinen Vorlesungen über die Denkwelten verschiedener Philosophen weder um geronnene Einführungen, noch gar um abschließende Zusammenfassungen handelt: „Studenten, die auf der Grundlage dieser kleinen Abhandlungen eine Prüfung ablegen möchten, werden sich enttäuscht sehen: die Prüfung werden sie nicht bestehen.“ Selbstredend kann hier von einer Untertreibung gesprochen werden, die Kolakowski freilich nicht aus Eitelkeit, sondern aus Einsicht in die Komplexität des Denkens vorgenommen hatte.

Kolakowski ist als philosophisch-theologischer Denker immer auch der „real existierenden Wirklichkeit“ verbunden gewesen. Neben seinen akademischen Studien hat er sich immer dann in gesellschaftspolitische Diskussionen eingemischt, wenn er existentielle Angelegenheiten angegriffen sah. Sein Einsatz für protestierende Studenten und gegen einen primitiven Antisemitismus im nachstalinistischen Polen ist hier ebenso anzuführen, wie seine Wortmeldungen zum deutsch-polnischen Verhältnis. Als Europa und die Welt noch in Ost und West geteilt waren, mahnte Kolakowski unbeirrbar mit leiser, aber entschlossener Stimme die gemeinsamen europäischen Wurzeln und Traditionen für eine vereinte Gegenwart im Denken an. Dass die erhoffte Zukunft in Frieden und Freiheit noch zu seinen Lebzeiten eingetroffen ist, hatte auch er nicht zu träumen vermocht. Mit Fug und Recht bleibt Kolakowskis Lebenswerk in der europäischen Erinnerung als das Werk eines gesamteuropäischen Wegbereiters im Gedächtnis.

Am 17. Juli 2009 ist Leszek Kolakowski im Alter von 81 Jahren in Oxford verstorben.