„Neue Wege der Forschung“ – aber das Neueste fehlt!

Ein Sammelband von Michael Kißener über den „Weg in den Nationalsozialismus“

Von Jürgen SchmädekeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Schmädeke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wege der Forschung“ hieß eine verdienstvolle Reihe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (WBG), in der über mehrere Jahrzehnte hinweg einige hundert Bände erschienen sind. Dann brach auch in Darmstadt ein neues Jahrtausend an, dem offenbar der WBG-Verlag seinen Tribut zollen wollte: Fortan gab man, in bisher 18 Bänden, „Neue Wege der Forschung“ heraus, statt in vornehm-graues Leinen nun in einen farbigen, mit Bild versehenen Paperback-Umschlag gebunden. Blickfang ist hier das bekannte Foto von 1933, auf dem Hindenburg, in Generalfeldmarschalls-Uniform, dem befrackten, einen Diener machenden Hitler die Hand reicht. So scheinbar bescheiden begann der Weg in Terror, Krieg und Untergang, dessen Erforschung immer noch nicht beendet ist. Die Fülle dieser Forschung legt es in der Tat nahe, einen neuen Überblick zu geben. Das ist in diesem Band nicht überzeugend gelungen.

Die meisten Beiträge sind über zwei Jahrzehnte alt, wie gleich eingangs zwei Artikel zum Begriff „Machtergreifung“ von Horst Möller und Norbert Frei, beide von 1983. Karl Dietrich Brachers Beitrag „Stufen totalitärer Gleichschaltung“ erschien sogar 1956, vor 53 Jahren, ihm steht wenigstens Peter Steinbach mit einem gekürzten Artikel von 2002 zur Seite; leider sind gerade diese beiden zentralen Artikel ohne Anmerkungen. Drei Artikel zum Ermächtigungsgesetz stammen von 1971, 1977 und 1988. Etwas aktueller sind lediglich drei Artikel zur Reichstagsbrandverordnung (2002) und zum Röhm-Putsch (2001 und 2003).

Beispielhaft lässt sich die Problematik des Bandes an der Behandlung der „Kontroverse um den Reichstagsbrand“ zeigen, den der Herausgeber Michael Kißener zu den „entscheidenden Zäsuren bei der Zerstörung der Weimarer Rechtsordnung“ zählt: Ulrich von Hehls dazu abgedruckter Beitrag ist eine im Ton nüchterne Schilderung von 1987/88, die in der Sache, trotz Detailkritik, der Alleintäterschaftsbehauptung von Fritz Tobias und Hans Mommsen zuneigt. Dass die Forschung danach zwei Jahrzehnte weiterging, mit neuen Dokumenten und Analysen, die zeigen, mit welchen Mitteln der Irreführung und Quellenmanipulation insbesondere Tobias gearbeitet hat, fällt bei von Hehl unter den Tisch. Ebenso gibt es bei ihm keine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem – bis jetzt von keinem Sachverständigen widerlegten – Nachweis, dass Marinus van der Lubbe den in wenigen Minuten entstehenden Großbrand allein nicht gelegt haben konnte – was zumindest ein Indizienbeweis dafür ist, dass NS-Planer und –Täter für die Brandstiftung verantwortlich waren.

Der Herausgeber dieses Bandes über „Neue Wege der Forschung zieht sich aus der Affäre, indem er im Vorwort bedauert, dass die „neueste Forschung […] wegen ihres Umfanges, aber auch wegen der anhaltend scharfen Gegensätze der Autoren untereinander […] hier leider nicht präsentiert werden konnte“. Stattdessen begnügt er sich mit der Aufzählung einer Reihe von zwischen 1995 und 2008 erschienenen Titeln, der letzte stammt vom Berliner Journalisten Sven Felix Kellerhoff. Dieser versucht, nach langen Gesprächen mit Mommsen und Tobias, deren Alleintäterschafts-These zu retten, indem er die explosionsartige Feuerausbreitung mit einem angeblich neu entdeckten Phänomen, dem „Backdraft“ – auf deutsch: einer Rauchgas-Explosion – zu erklären versucht. Deren Entstehung, Verlauf und Wirkung kannten die Sachverständigen von 1933 jedoch sehr wohl, als sie – wie alle späteren Gutachter – mit ihren Berechnungen van der Lubbe als Alleintäter ausschlossen.

Eine Unschärfe bleibt im Nachweis der NS-Brandstiftung: Geständige Mittäter wurden bis heute nicht namentlich dingfest gemacht. Doch führen etliche Spuren von Todes- und Mordfällen seit 1933 zu Verdächtigen und mutmaßlichen Mitwissern, und wer das Ende 1945 überlebte, hatte allen Grund, jeden Verdacht von sich zu weisen oder die Fakten bis zum „Beweis“ seiner Unschuld neu zu ordnen. So etwa könnte in Stichworten ein sachliches Resümee der zwei letzten Forschungs-Jahrzehnte zu diesem Thema aussehen.

Alles in allem: Der Band enthält im Detail sehr lesenswerte Beiträge, von Brachers „Klassiker“ über die Stufen der Gleichschaltung bis zu Peter Longerichs 2003 erschienener Analyse des sogenannten „Röhm-Putschs“, der ein Putsch Hitlers gegen die SA und Röhm mit Unterstützung der Reichswehr war und 1934 die erste „revolutionäre“ Phase abschloss. Unklar bleibt bei dieser Aneinanderreihung von punktuell wichtigen einzelnen Themenkomplexen wie Reichstagsbrand, Brandverordnung, Ermächtigungsgesetz und „Röhm-Putsch“, wie sich insgesamt die Forschungslage seit 1945 entwickelt hat. Eine systematische Aufarbeitung der langjährigen Kontroverse zwischen „Intentionalisten“ und „Strukturalisten“ fehlt völlig. Und wenn der Herausgeber beim Reichstagsbrand für die neueste Zeit nach 1988 die analytische Flinte ins Korn wirft, statt gerade hier Polemik von belegbaren Fakten zu trennen, kapituliert er vor der selbstgestellten Aufgabe, „neue Wege der Forschung“ aufzuzeigen.

Titelbild

Michael Kißener (Hg.): Der Weg in den Nationalsozialismus 1933/34. Neue Wege der Forschung.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2009.
246 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783534200993

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