Lebendiges Panorama

Reinhard Lauers ausgezeichnete "Geschichte der russischen Literatur"

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die russische Literatur zählt zu den großen Nationalliteraturen. Ihr Beitrag zur Weltliteratur ist einzigartig und unverzichtbar. Sie stellt, da es am Ende des zweiten Jahrtausends in Rußland erstmals möglich wurde, alle ihre Bestandteile zusammenzufügen, einen ungeheuren künstlerischen Reichtum und eine unvergleichliche Vielfalt der schöpferischen Richtungen dar." - Da ist es kein Wunder, dass eine umfassende Untersuchung über die Literatur Russlands zu einem Lebenswerk gerät, denn als ein solches wird man Reinhard Lauers im Beck-Verlag erschienene "Geschichte der russischen Literatur" ohne großes Wagnis bezeichnen dürfen. Der dickleibige Band verbindet Genauigkeit im Detail mit einem einzigartigen Überblick, vereint Gattungsgeschichte und chronologische Entfaltung mit einem deutlichen Akzent auf wichtigen Autoren, ihren Werken und Lebensumständen.

So erfährt der Leser, dass sich Nikolaj Gogol ausgerechnet mit den "Toten Seelen", seinem farbenfrohen, komisch-grotesken Roman um ein betrügerisches Handelsgeschäft, "ausgeschrieben" und das Verhängnis durch rastloses Reisen vergeblich abzuwenden versucht hatte, bevor sein literarisches Schaffen endgültig stagnierte. Die Lebendigkeit und Frische, mit der Lauer solche Skizzen gelingen, beeindruckt nicht weniger als sein sicheres Gespür für die Textgestalt. Auch wenn man Ivan Goncarovs berühmten "Oblomow" (die Geschichte eines sympathischen, aber bis zur Handlungsunfähigkeit lethargischen Gutsbesitzers) als Antwort auf die Bauernaufstände und als Abrechnung mit der ausbeuterischen Lebensweise einer priviligierten Oberschicht lesen mag - der Umstand, dass der willensschwache Oblomow viel eher die Sympathien des Lesers zu mobilisieren versteht als sein realitätstüchtiger Freund und Gegenspieler Stolz, verrät, dass das Sinngefüge den urspünglichen Intentionen Goncarovs entglitten ist.

Als Direktor des Seminars für Slawische Philologie an der Universität Göttingen und Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Belgrad, Zagreb und Wien verfügt Lauer über die nötige Umsicht, um neben der slawischen oder 'asiatischen' Befindlichkeit jene andere Strömung nicht aus dem Blick zu verlieren, deren Existenz ein wesentliches Merkmal der spannungsreichen Identität der russischen Literatur ausmacht: ihre befruchtende Auseinandersetzung mit den zivilisatorisch, philosophisch und in den Künsten 'fortgeschritteneren' Leistungen Westeuropas. "Die Rückbesinnung auf die östlichen Wurzeln", schreibt Lauer, "gehört ebenso wie die Annahme westlicher Werte zu den möglichen grundsätzlichen Optionen nicht nur der russischen Dichter und Künstler, sondern jedes einzelnen Russen."

Die "Geschichte der russischen Literatur" beginnt mit der Epoche der Europäisierung der russischen Literatur in der Zeit Peter des Großen (um 1700) und führt über die romantische Puškin-Zeit, den russischen Realismus, die russische Moderne, die Teilung der russischen Literatur, den sozialistischen Realismus der 1930-er Jahre, die wesentlich durch die Entstalinisierung bestimmte "Tauwetter"-Periode, die "Reintegration" der russischen Literatur (Perestrojka und Glasnost) bis zu den aktuellen literarischen Tendenzen im Herbst 1999. Dank ausführlicher Register und Bibliografien eignet sich diese ambitionierte Literaturgeschichte zugleich als praktisches und verlässliches Nachschlagewerk.

Titelbild

Reinhard Lauer: Geschichte der russischen Literatur.
Verlag C.H.Beck, München 2000.
990 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3406453384

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch