Barocke und avantgardistische Maschinentheater

Helmar Schramm, Ludger Schwarte und Jan Lazardzig veröffentlichen einen Forschungsband zu den Interferenzen von Kunst und Wissenschaft

Von Nikola RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nikola Roßbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der vierte Band der Theatrum Scientiarum-Reihe des de Gruyter Verlags versammelt Beiträge einer Tagung, die im November 2005 vom Sonderforschungsbereich „Kulturen des Performativen“ der Freien Universität Berlin gemeinsam mit dem Bauhaus Dessau veranstaltet wurde. Es galt einmal mehr, aus der Rekonstruktion historischer Langzeitprozesse „ein Verständnis des Zusammenwirkens heutiger medialer Konfigurationen wissenschaftlicher Programme und künstlerischer Praxis“ zu erschließen, so die Herausgeber über ihr auf neun Bände angelegtes Projekt „Theatrum Scientiarum“.

Die bereits erschienenen drei Bände diskutierten Interferenzen von Kunst und Wissenschaft speziell im 17. Jahrhundert. Sie konzentrierten sich damit auf eine signifikante kulturgeschichtliche Periode, die einerseits von der ,Wissensrevolution‘, dem rasanten Aufstieg der empirischen Wissenschaften, geprägt ist und sich andererseits als dezidiert theatrale Epoche reflektiert: Dafür steht das barocke theatrum mundi ebenso ein wie die so genannte „Theatrum“-Literatur, die ein bedeutendes Segment der zeitgenössischen enzyklopädischen, kompilatorischen und polyhistorischen Wissensliteratur darstellt (vgl. das DFG-Projekt „Erforschung der theatralen Wissenskultur der Frühen Neuzeit“).

Die Paradigmen von Wissen(schaft) und Theatralität – unter den Aspekten ,Instrument‘, ,Schauplatz‘, ,Experiment‘ und nun ,Maschine‘ – zu konfrontieren, ist ein aktuell äußerst ergiebiger Forschungsansatz, was (nicht nur) die Publikationen Helmar Schramms und seiner Herausgeberkollegen Ludger Schwarte und Jan Lazardzig eindrucksvoll bezeugen: 2003 erscheint der erste Theatrum-Scientiarum-Band „Kunstkammer – Laboratorium – Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert“, 2006 folgen Theatrum Scientiarum II („Instrumente in Kunst und Wissenschaft. Zur Architektonik kultureller Grenzen in Kunst und Wissenschaft im 17. Jahrhundert“) und III („Spektakuläre Experimente. Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert“). Die ersten beiden Bände wurden 2005 und 2008 ins Englische übersetzt.

Der hier rezensierte vierte Band weitet den Blick über die Epoche des Barock hinaus. Er fokussiert nicht nur die theatralen Wissenskulturen des 17. Jahrhunderts; diese erscheinen vielmehr als ,Spuren‘ der Avantgarde des 20. Jahrhunderts ebenso wie als Erklärungsmodell jener Avantgardebewegungen, die eine „groß angelegte Experimentalanordnung“ darstellten.

Helmar Schramms „Einleitung. Gangarten im Theatrum machinarum“ gibt die Marschrichtung vor – im buchstäblichen Sinn: Modelle und Begriffe des Gehens und der menschlichen Gangarten sieht er in engem Bezug zum kulturprägenden Paradigma des „Theatrum machinarum“. In einem informativen Überblick stellt er die Buchbeiträge kenntnisreich – und mit durchaus werbender Geste – vor.

Das Denkmodell der Maschine, produktiv angewendet auf sich gegenseitig reflektierende barocke und avantgardistische Phänomene, dient etlichen Beiträgern als Anlass zu einer Problematisierung epistemologischer Festschreibungen: Hannes Böhringer philosophiert im Essay „Auf die Verbindung kommt es an, und daß sie vorher ein bisschen unterbrochen wird“ (Hugo Ball, 1916) anhand maschineller Dynamiken über Bleiben und Gehen, über Gewohnheit und Unterbrechung. Bernhard J. Dotzler stärkt in seinem Beitrag zur „Frühneuzeit der Kybernetik: Urgeschichte oder Archäologie?“ die Diskontinuitäten in der Geschichte des Wissens und der Technik gegenüber vorschnellen Homogenisierungen und Bezugsherstellungen. Stefan Rieger hinterfragt am „Theater der künstlichen Tiere. Animalik und Mechanik in der Frühen Neuzeit“ Chronologien der Wissenschafts- und Kunstgeschichte. Paolo Brenni nimmt in „Große Erwartungen“ anhand von „Funkionsstörungen experimenteller Instrumente“ die Diskontinuitäten der Wissenschaftsgeschichte vom 17. Jahrhundert bis heute in den Blick; auch Martina Leeker untersucht „Störungen und Erkenntnistrübungen in Maschinentheatern. Kulturelle Leistungen bildgebender Oberflächen (quadro) im 17. Jahrhundert und seit den 1960er Jahren“. Karlheinz Barck weist das Konzept der ungenauen Wissenschaft als Vermittlungsversuch zwischen Künsten und Wissenschaften und als kritische Infragestellung ihrer Differenzierung seit dem 19. Jahrhundert nach: „Spuren der Avantgarde ,in treating of the inexact sciences‘ (James Joyce)“ nach.

Nicht alle Beiträge beziehen die Epistemen des 17. und 20. Jahrhunderts so programmatisch aufeinander wie Christian Kassungs Studie zu Empirie und Theoriebildung anhand barocker und avantgardistischer Pendel-Experimente („Kreis-Ähnlich. Die Bewegung des Pendels in Apparaten und Formeln des 17. Jahrhunderts“), wie Jörg Jochen Berns’ ikonografischer Abriss von Himmels- und Höllenmaschinen in der Frühen Neuzeit und – wenn auch etwas knapp geraten – im 20. Jahrhundert („Himmelsmaschinen und Höllenmaschinen. Ihre Bedeutung für die Maschinengeschichte und deren Ikonografie in der Frühen Neuzeit und im 20. Jahrhundert“), wie Jan Lazardzigs Untersuchung zur Paradoxie von Lust und Nutzen der barocken Maschine mit gedanklichem Transfer auf die Anti-Maschinen der Avantgarde (Paradoxe Maschinen. Tzara, Bracelli und der Ursprung des Fragens) und wie schließlich Thomas Rahns Vergleich politischer Unterhaltungskunst anhand vormoderner und moderner Lichtästhetiken: „Explosion und Konstruktion. Feuerwerk und Illumination als Modelle für Lichtreklame und Kunstlichtästhetik der Avantgarde“.

Manche Interferenzen barocker und avantgardistischer Wissenskultur und Kunst kommen indessen nur auf der Ebene des Gesamttextes in den Blick. Einige Beiträge behandeln ausschließlich die Frühe Neuzeit: Wolfgang Lefèvre analysiert sehr kenntnisreich die „Maschinenzeichnungen der Renaissance“ – unterteilt in Werkstatt- und Präsentationszeichnungen – hinsichtlich ihrer kommunikativen und epistemologischen Funktion. Dennis Des Chene stellt in „Imaginierte Maschinen und wirkliche Welt“ die frühneuzeitliche Maschine als Schauobjekt und Performanz dar und betont ihren Möglichkeitsaspekt. Zakiya Hanafi spürt Verbindungen von Monstrosität und Mechanik auf und diskutiert in ihrem Beitrag „Vergnügen und Schrecken mechanischer Monster in der Frühen Neuzeit“ Aspekte von Macht und Materie. Ludger Schwarte problematisiert die theatrale Konstellation von Mensch und Maschine an Exekutionsapparaten: „Von der Tiermaschine zur Fabrikation des Todes. Die Spur der Exekutionsapparate im Maschinentheater des 17. Jahrhunderts“.

Im Gegenzug konzentrieren sich andere Aufsätze ganz auf die avantgardistischen Tendenzen des 20. Jahrhunderts: auf den Futurismus (Claudia Salaris: „Die Futuristen und die Religion der Maschine“), auf das Bauhaus und seine postmodernen Reflexionen und Fortschreibungen (Gabriele Brandstetter: „Kinetische Explorationen. Oskar Schlemmer – Gerhard Bohner – Dieter Baumann“ und Joachim Krausse: „Mechanischer Affe und Quantum Machine. Bau- und Bühnenlaboratorium – vom Bauhaus zum Black Mountain College“), auf surrealistische Maschinenästhetiken (Andreas Wolfsteiner: „,… a new human being, half robot and half four dimensional.‘ Duchamp, Roussel, Maschine“ und Sven Spieker: „Die Bürokratie des Unbewussten. Das Archiv der Surrealisten“), allgemein auf avantgardistische musikalisch-maschinelle Architekturen (Christa Brüstle: „Sound of Modernism. Maschinengeräusche und ihr Echo in der Musik“) oder speziell auf Jean Tinguelys dekonstruktivistisches Meta-Maschinentheater der 1950er- und 1960er-Jahre (Hans-Christian von Herrmann: „Meta-Mechanik. Jean Tinguelys Maschinentheater“).

Mitten im 533 Seiten starken Band versteckt sich ein interessanter Beitrag, der womöglich als finale Pointe besser gewirkt hätte: Caroline A. Jones’ „Techno-Epistemologien der neuen Medienkunst“. Jones stellt Modelle künstlerischer Produktion und Rezeption des nach-mechanischen, digitalen Zeitalters vor und bringt die neuesten techno-epistemologischen Entwicklungen auf den Begriff des matrixialen Wissensmodus, um damit nichts weniger als eine neue, am Modell der ‚Userfunktion‘ orientierte Hermeneutik zu skizzieren.

Die Vielfalt der konsequent hochwertigen 23 Beiträge kann hier nur angedeutet werden. Der Band versammelt ausgewiesene, zum Teil renommierte Fachleute zu einer sehr speziellen Thematik. Damit geht er zwangsläufig das Risiko ein, publizierte Forschungsergebnisse in einer Art ,Readers Digest‘-Version nur geringfügig verändert zu duplizieren: Hier eine Balance zu finden ist ein sammelwerktypisches Dilemma, das auch der vorliegende Band nicht immer lösen kann.

Bleibt die Frage nach der Lücke. Was fehlt dem vierten „Theatrum Scientiarum“-Band? Zweifellos eine Definition seines Gegenstandes: Was eine Maschine ist, was überhaupt mit „Theatrum machinarum“ gemeint ist, wird nicht festgelegt. „Macht. Maschinen. Magie“: Dieses Plädoyer gegen einen rein technischen Maschinenbegriff und für den Zusammenhang von Maschine und Unbewusstem hat noch am ehesten grundlegenden Charakter, obgleich Martin Burckhardts Thesen keinesfalls als programmatisch für den ganzen Band zu werten sind. Auch Martina Leekers interessante Definition von ,Maschinentheater‘ – allzu dezent in einer Fußnote versteckt – gilt nur für ihren eigenen Beitrag: Sie definiert ,Maschinentheater‘ „aus einem medienteoretischen Verständnis von Theater als Ort des Zur-Schau-Bringens technischer und medialer Funktionalität und Operativität. In diesem Vorgang kann es zugleich selbst als (maschineller) optischer oder akustischer Apparat zu einem Medium werden und im Vollzug der Darstellung eine künstliche Welt als Wirklichkeit theoretisch und perzeptiv behaupten. Ebenso können Geräte und Apparate als ‚Maschinentheater‘ aufgefasst werden, wenn sie auf ihren Oberflächen etwas zur Schau bringen. Jenseits einer Fokussierung auf das Spiel von Akteuren als Theater kann die Maschinenhaftigkeit und Medialität von Theater bzw. die Theatralität von Maschinen also an einer Epistemologie apparativer Anschauung festgemacht werden.“

Soll man die eklatante definitorische ‚Lücke‘ als Makel oder als Chance bewerten? Möglicherweise – und ich plädiere für diese Sichtweise – ist sie dem Respekt vor der paradoxen Pluralität des Gegenstandes geschuldet und wird ihm damit umso gerechter. Dass Helmar Schramm gegenüber auktorial gesetzten terminologischen Zuschreibungen eine generelle Skepsis hegt, bezeugt seine Beschreibung des ,ästhetischen Grundbegriffs‘ Theatralität: Ausdrücklich grenzt er diesen nicht trennscharf von ähnlich strukturierten Diskurselementen ab, denn: „Von einer abstrakt fixierten, metatheoretischen Zentralperspektive her läßt sich definitiv kein Überblick mit Tiefenschärfe organisieren“ (vergleiche Helmar Schramms Artikel in Karlheinz Barcks Band „Ästhetische Grundbegriffe“).

Zurück zu den „Gangarten im Theatrum machinarum“: Die Prolegomena des Bandes mündet in eine polemische Reflexion von Position, Rhythmus und Tempo heutiger Wissenschaft, die von institutionellen und staatlichen Maschinerien geformt und damit deformiert werde. Schramm geißelt die Beschleunigung der Gangart im akademischen Betrieb als „allgemeine Raserei, die inzwischen soweit geht, exzellente Resultate bereits zu feiern bevor ernsthafte Forschungen überhaupt begonnen haben“; er bemängelt besonders die Ökonomisierung, Normierung und Beschränkung wissenschaftlichen Lernens und Arbeitens. Damit profiliert er sich nicht als einziger Kritiker aktueller wissenschaftspolitischer Entwicklungen, wohl aber als ein besonders scharfzüngiger: „Nachdem es in den letzten Jahren Schritt für Schritt gelungen ist, so genannte Langzeitstudenten zum Schreckgespenst der Universitätsmaschinerien hochzustilisieren, tritt nunmehr der Kurzzeitstudent als neues Ideal einer pathologischen Wissenschaftspolitik auf den Plan: Nobelpreisträger nach drei Jahren flüchtiger Lektüre und anschließend namenloses Rädchen in zentralistisch gleichgeschalteten Forschungsclustern, deren vorzügliche (Selbst)Aufgabe im permanenten Eintreiben von Geldern bzw. im ständigen Anpreisen der eigenen Käuflichkeit besteht.“

Die künftigen Bände fünf bis neun sollen sich den anatomischen, alchemistischen, ökonomischen, politischen und philosophischen Dimensionen des „Theatrumscientiarum“ widmen. Man darf zuversichtlich sein, dass sie – ohne „Gefährdungen der eigenen Gangart“ – Schritt halten mit den bis dato präsentierten Forschungsergebnissen des Berliner SFB-Projekts.

Titelbild

Helmar Schramm / Ludger Schwarte / Jan Lazardzig (Hg.): Spuren der Avantgarde. Theatrum Machinarum. Frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich.
De Gruyter, Berlin 2008.
533 Seiten, 118,00 EUR.
ISBN-13: 9783110204452

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