Gebrauchsanleitungen für den Bann der Gewalt

Enzo Traverso präsentiert in seinen letzten beiden Büchern vor allem deutsche Opfer und sieht die globale Erinnerung durch die jüdische Perspektive manipuliert

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit über fünfzehn Jahren publiziert Enzo Traverso zur so genannten ‚jüdischen Frage‘, über das Verhältnis des Marxismus zum Judentum und zum Antisemitismus, über verschiedene gesellschaftstheoretische Versuche zur Erklärung des Nationalsozialismus und der Shoah und über das Verhältnis von Moderne und Gewalt respektive von Holocaust und Moderne. Der 1957 geborene Italiener lebt in Frankreich und ist Professor für Politik an der Universität von Amiens. Seine ideologischen Wurzeln liegen im europäischen Trotzkismus, sein geistiger Mentor ist Ernest Mandel und gegenwärtig ist er politisch im Umfeld der „jour fixe initiative berlin“ tätig. Seine Bücher haben es von trotzkistischen Kleinverlagen wie „Decaton“ und „Neuer ISP-Verlag“ über die „Hamburger Edition“ von Jan Philipp Reemtsmas „Hamburger Institut für Sozialforschung“ bis zum Siedler-Verlag geschafft; sie werden inzwischen von Saul Friedländer und Dan Diner gelobt, vom Feuilleton sowieso.

Mit seiner neuesten Veröffentlichung „Im Bann der Gewalt“ gibt er dem Zeitabschnitt von 1914 bis 1945 den Namen „Zeitalter der Extreme“ oder auch die Zeit des „europäischen Bürgerkriegs“. Ersteren hat er von Eric Hobsbawm, zweiteren von Ernst Nolte. Weil letzterer diese Bezeichnung verwendete, um damit die Shoah zu relativieren, weiß Traverso, dass er aufpassen muss, um nicht auch als Revisionist dazustehen. Ihm gehe es darum, erklärt er, eine „breitere Perspektive“ einzunehmen, um den „Sinn einer Epoche der Kriege und Revolutionen zu erfassen“. Er intendiert, diese Zeit nicht als Zeitalter des Totalitarismus stehen zu lassen, sondern auch als eine Ära der Revolutionen kenntlich zu machen. An die Helden dieser Zeit werde nicht mehr erinnert. Traversos Helden, das sind diejenigen, die für ein vereintes Europa kämpften – ob sie es wussten oder nicht.

Ein Bürgerkrieg, so definiert Traverso, das sei „kein zwischenstaatlicher Konflikt, sondern ein Ordnungsbruch im Inneren eines Staates, der sich nicht mehr in der Lage sieht, sein Gewaltmonopol aufrechtzuerhalten“. Und deswegen ergibt der Begriff des „europäischen Bürgerkriegs“ auch gar keinen Sinn, denn Europa war und ist kein Staat, in dessen Innerem ein kriegerischer Konflikt ausgefochten worden wäre. Man kann diesen Gedanken auch vernachlässigen, denn weder erfährt man über diesen angeblichen Bürgerkrieg viel, noch begründet Traverso sein Konzept. Er bemüht sich lediglich, formale Merkmale eines Bürgerkriegs in der Epoche von 1914 bis 1945 wiederzufinden. Mitunter wird er fragmentarisch fündig. Aber weder die Strategie eines unconditional surrender, noch die Selbstzweckhaftigkeit des Kriegführens, noch der gnadenlose Krieg gegen die Zivilbevölkerung treffen auf alle Bürgerkriege oder für alle Beteiligten der Kriege und Konflikte zwischen 1914 und 1945 zu.

Damit sein Konzept vom europäischen Bürgerkrieg plausibel wird, versucht Traverso immer wieder, Europa als Einheit zu beschwören. So beispielsweise, wenn er den Ersten Weltkrieg als „eine europäische Krise“ bezeichnet und Europa damit zum Subjekt macht, das nach dem Ersten Weltkrieg „nicht nur damit beschäftigt [war], seine Wunden zu verbinden“. Belege für sein Bild eines gegen Europa geführten europäischen Bürgerkriegs findet er vor allem bei Äußerungen von Autoren aus der Zwischenkriegszeit – aber Wahrnehmungen von Literaten schaffen noch keine Fakten. Das Konzept des europäischen Bürgerkriegs funktioniert nur vor dem Hintergrund einer Idee, die Traverso immer wieder andeutet, wonach die europaweit exilierte antifaschistische Linke die Trägerin eines geheimen Europas sei.

Deren „Exilkultur“ habe aus „Pazifismus“, „kosmopolitischem Geist“, „Gleichheit, Freiheit, Demokratie“, „bürgerschaftlichem Denken“ und aus den „Traditionen der Aufklärung“ überhaupt bestanden. Die antifaschistische Linke sei der „Botschafter eines von der Vernichtung bedrohten humanistischen Europas“ gewesen. Natürlich habe sie nicht alleine dagestanden. Traverso meint, „eine zwar nur provisorische, aber doch wirkmächtige Einheit zwischen der Arbeiterbewegung und einer Intelligenz“ zu erkennen. Zu diesem Traumbild eines jeden sozialistischen Theoretikers gehört stets auch der Groll gegen die, die diese Chimäre gefährden. Nicht alle Intellektuellen, die antifaschistisch dachten, will Traverso zu seiner Einheitsfront dazugehören lassen. Mit hörbarem Abscheu spricht er sich gegen die aus, die nicht für eine sozialistische Partei waren, wie beispielsweise Georges Bataille. Diese Intellektuellen, die sich schon damals nicht nötigen lassen wollten, sieht Traverso in einer „‚Grauzone‘ der Unentschiedenen und abgehobenen Beobachter, die sich einfach nur aus allem heraushalten wollten“. Sollte er die Bedeutung von „Grauzone“ aus Primo Levis „Die Untergegangenen und die Geretteten“ entlehnt haben, dann hätte er damit die zaudernden Intellektuellen auch noch den Faschisten gleichgesetzt.

Im Titel „europäischer Bürgerkrieg“ steckt nicht etwa ein genitivus subiectivus, sondern ein genitivus obiectivus: er heißt nicht so, weil er auf europäischem Boden ausgefochten wurde, sondern weil er gegen Europa gerichtet gewesen sei, gegen den europäischen Geist, gegen die Einheit des Kontinents und gegen die Moderne. Das Luftbombardement auf Deutschland im Zweiten Weltkrieg – eigentlich ein Krieg gegen Europa? Wenn das der Führer gewusst hätte. Und dies ist gar nicht weit hergeholt, denn schaut man sich Traversos Überlegungen genauer an, dann wurde sein europäischer Bürgerkrieg scheinbar hauptsächlich gegen Deutschland geführt. Über weite Strecken präsentiert „Im Bann der Gewalt“ die Deutschen als Opfer eines anti-europäisch handelnden Rest-Europas.

Wie immer – vor allem bei Traverso – lohnt ein Blick auf die Sprache. Wo man Täter und Verantwortliche, vor allem deutsche, benennen könnte, da verwendet der Autor unpersönliche Beschreibungen von subjektlosen Entitäten, die blind vor sich hinwirken. Der Titel des Buchs gibt den Ton vor: wer im Bann der Gewalt steht, der tut, wie alle anderen Gebannten, nur das, was er anders nicht kann. Aber bei Traverso ist eine Doppelstrategie zu erkennen: deutsche Verbrechen werden unter den unterschiedslosen Bann ‚der Gewalt‘ subsumiert, militärische Aktionen gegen Deutschland hingegen nicht, sondern werden Subjekten mit – meist niederen – Intentionen zugeschrieben.

Der Erste Weltkrieg beispielsweise entstand bei Traverso wie eine Naturkatastrophe, denn das Attentat von Sarajevo habe einem „Streichholz“ geglichen, „das einen Brand entzündete, der ganz Europa ergriff.“ Der Krieg selber wurde „von keinem seiner Akteure vorausgesehen oder gar gewollt. Hervorgerufen wurde er durch die Havarie einer diplomatischen Maschinerie.“ Nach dem Ersten Weltkrieg aber sind die Rollen klar verteilt, denn hier „entschied man sich, Deutschland zu bestrafen“, und so „bahnte er [der Versailler Vertrag] dann dem Faschismus den Weg.“

Früher nannte man diese Geschichtsdeutung „Revisionismus“. Heutzutage merkt kein Rezensent mehr auf, und selbst das „Bulletin des Fritz Bauer Instituts“ (Frühjahr 2009) beurteilt „Im Bann der Gewalt“ als eine „brilliant geschriebene Skizze“. Und es geht noch weiter: Nachdem das uneuropäische Europa Deutschland bestraft und damit in den Nationalsozialismus getrieben habe, sollte Deutschland im Zweiten Weltkrieg vernichtet werden. „Die Bomben sollten die deutsche Zivilgesellschaft unter einem Schutthaufen begraben und ihre Kultur vernichten. Der Nihilismus, der sich zuerst auf spektakuläre Weise in den Bücherverbrennungen zeigte, fand nun auf dem Höhepunkt des europäischen Bürgerkriegs sein logisches Ende.“

Traverso differenziert nicht nach Intentionen und unvermeidbaren Nebeneffekten. Dafür suggeriert er eine irgendwie bestehende Verbindung zwischen Nazis und Alliierten, die er durch das theoretische Kitt-Wort „logisch“ suggeriert. Zuerst hätten die Nazis und dann die Alliierten den europäischen Geist in Buchform verbrannt; nicht taten die ersten mit Absicht, was die zweiten leider nicht verhindern konnten, wenn sie die ersten daran hindern wollten, nicht nur Bücher, sondern die ganze Welt anzuzünden.

Geht es um alle Beteiligten des Luftkriegs, inklusive der Deutschen, so verlieren sich die konkreten Umstände schnell in der „Spirale der Gewalt“ und der „Logik des totalen Kriegs“; geht es hingegen um die alliierten Luftangriffe auf Deutschland, dann wird das Leiden der deutschen Zivilbevölkerung beschworen, über das man laut Traverso in Deutschland jahrzehntelang nicht habe sprechen dürfen. Geht es um die Nürnberger Prozesse, dann wird der Gegenstand dieser Prozesse, die deutschen Vernichtungskriege, schnell zu einer „gerade zu Ende gegangenen kriegerischen Auseinandersetzung“ neutralisiert, der Prozess selber hingegen zum selbstherrlichen Schauspiel einer ungerechten Siegerjustiz stilisiert, die vor allem ihr „Rachebedürfnis befriedigen“ wollte.

Mit „Im Bann der Gewalt“ habe Traverso laut „Tagesspiegel“ eine „brilliante Studie“ vorgelegt, doch fragt man sich nach der Lektüre, was in diesem Buch eigentlich zu dieser Bewertung geführt haben soll. Neben seinen Untersuchungen finden sich langatmige Zusammenfassungen von historischen und kulturhistorischen Forschungsergebnissen und Referate zu Theoretikern (vor allem Walter Benjamin und Carl Schmitt). Es bleibt offen, warum Traverso sie referiert und ob er ihrer Meinung ist. Ausführlich schlägt sich hier das Berufsgebrechen europäischer Trotzkisten Bahn (man denke nur an die Werke von Daniel Bensaid oder Mario Keßler).

Traversos neuestes Buch knüpft an Vorarbeiten aus seinen früheren Büchern an. Zwischendurch wird pflichtschuldig der Shoah, respektive dem Problem ihrer Singularität, Reverenz erwiesen, wie man es von ihm kennt: die Vernichtung der Juden sei „ein Bruch und etwas völlig Neues“ – füge sich aber „doch auch in die ‚lange Dauer‘“ ein; man könne sie nicht „gleichsetzen“ – wohl aber „in ihren historischen Kontext stellen“. Sie sei singulär – aber vergleichbar; sie füge sich nicht ein – wird aber doch eingefügt. Dies kann man moralisch verwerflich finden, sollte man aber nicht. Denn auf die moralische Dimension verkürzt Traverso (so wie Slavoj Zizek, Giorgio Agamben und Tzvetan Todorov) diese Kritik gerne, um sie dann umso leichter und heftiger abtun zu können. Vor allem aber ist Traversos Sicht auf die Shoah falsch.

Auch sein vorletztes Buch „Gebrauchsanleitungen für die Vergangenheit“ widmet sich der Singularität der Shoah, und es gab einige Formulierungen vor, die man auch im „Bann der Gewalt“ wiederfindet. Die Revolutionen des Zeitalters des europäischen Bürgerkriegs drohten nicht nur durch die falsche Sicht dieser Periode als Zeitalter des Totalitarismus unterzugehen, sondern auch durch die Dominanz der so genannten „Ära des Zeugen“. Zu ihr, zur „‚Zivilreligion‘ des Holocaust“, will Traverso ein Gegengewicht platzieren.

Auch in den „Gebrauchsanleitungen“ soll es offiziell eigentlich um etwas anderes gehen, und zwar um „die politische Dimension der Erinnerung“ und „die Beziehungen zwischen Geschichte und Erinnerung“. Aber wieder geht es zwischen all den Referaten von Theorien besonders um ein ganz bestimmtes Thema, das Traverso umtreibt. Ist im „Bann der Gewalt“ Deutschlands Opferrolle das zentrale Thema, so geht es in den „Gebrauchsanleitungen“ um die jüdischen Überlebenden der Shoah und um Israel.

Auf welches Land bezieht er sich in den „Gebrauchsanleitungen“, wenn er von einer „Erinnerungsbesessenheit“ und einer „Phase der Obsession“ spricht, „wie sie heute herrscht“? Welche Erinnerung woran meint er, und welche Zeitzeugen würden „auf einem Sockel“ stehen und „heute ungefragt zu Ikonen“? Er sagt es nie explizit, aber man weiß, was er meint: Deutschland, den Nationalsozialismus, die Holocaust-Überlebenden. Es nicht sagen zu müssen und trotzdem damit rechnen zu können, dass jeder einen versteht – respektive andersherum: es nicht explizit gesagt zu bekommen und trotzdem zu verstehen, was er meint, dies schafft ein besonderes Einverständnis zwischen Autor und Rezipienten.

In seinem vorletzten Buch geht es vor allem darum, die jüdische Perspektive auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu einer hegemonialen zu stilisieren und Richtlinien für einen richtigen Gebrauch der Vergangenheit, insbesondere des Holocaust, festzulegen.

Traverso macht die Erinnerung der Überlebenden en passant verächtlich, indem er sie mit Pejorativa aus der linken Theorie assoziiert. Erstens laufe die Betonung der Einzigartigkeit Gefahr, „in ein altes eurozentristisches Voruteil zu verfallen“, so sagte er bereits an früherer Stelle. Zweitens werde die Erinnerung durch ihre Ubiquität schließlich auch kulturindustriell verwertet und deswegen komme es zu „einem Phänomen der Verdinglichung der Vergangenheit, das heißt ihrer Verwandlung in ein Konsumprodukt“. Drittens erfülle die Erinnerung eine ideologische Funktion, weil sie zu dem Zeitpunkt der „Vermittlungskrise der Gesellschaften“ auftrete. Die Erinnerung wird also zu einer Ersatzhandlung für die Bewältigung gesellschaftlicher Probleme. Die Erinnerung an den Holocaust, das ist also Rassismus, Konsum und Verschleierung. In einer „sehr selektiven Erinnerung“ werde der Holocaust „in ein Instrument transformiert für eine besonders vergessliche Erinnerungspolitik, was die Verbrechen der USA angeht“ (das ist formuliert in Bezug auf Susan Sontag). Es bestehe die Gefahr, „die Erinnerung an sie [die Shoah] zu missbrauchen, sie einzubalsamieren, in Museen einzusperren und ihr kritisches Potential zu neutralisieren, oder schlimmer, sie apologetisch als Stütze der aktuellen Weltordnung zu benutzen.“ Sie diene dann als „negative Legitimation des liberalen Westens.“

Vor allem aber geht es ihm um die angeblich hegemoniale Stellung der jüdischen Perspektive. Wer auf einem Sockel steht, der wird unangreifbar, dem unterwirft man sich (oder dem muss man sich unterwerfen) wie einer Götzenstatue und der lässt nichts anderes neben sich gelten. Im Besonderen verdrängt werde die Erinnerung an den antifaschistischen Widerstand – und damit werde die Möglichkeit genommen, Traversos linkes, vereinigtes Europa als Appellationsinstanz zu etablieren. Im Allgemein bestehe die Gefahr, dass die Subjektivität der Zeitzeugenberichte die Objektivität der Geschichte verdecke. Die partikulare jüdische Perspektive neige dazu, sich als allgemeine aufzuspreizen und drohe, alle anderen zu verdrängen.

Oder sie neige sogar dazu, die objektive Geschichte auszulöschen. Claude Lanzmann, dessen Film „Shoah“ er früher noch als hervorragenden Film lobte, beschuldigt er später, seinen Film als Ereignis „nach und nach an die Stelle des eigentlichen Ereignisses“ setzen zu wollen, „dessen Beweise er sogar zerstören wollte“. Der Holocaust werde bei Lanzmann auf eine diskursive Konstruktion reduziert, und dem Regisseur unterstellt Traverso niedere Beweggründe: „Weil Shoah sich als Dialogfolge abspielt, deren Subjekt Lanzmann bleibt, zeigt der Film auch die narzisstische Haltung des Autors.“ In Lanzmanns wohl begründeter Entscheidung, die Frage nach dem ‚Warum‘ der Judenvernichtung nicht stellen zu wollen, sieht Traverso eine „Sakralisierung von Erinnerung […] mit obskurantistischer Einfärbung“, „ein normatives Verbot des Verstehens, welches das Herz der Geschichtsschreibung als Interpretationsversuch trifft“.

Stets kann man in Traversos Kritik einen Kampf von Machinationen, Künstlichem und Erfundenem gegen die objektive Realität beobachten. Eine einseitige, nationalen Interessen untergeordnete Geschichtsforschung in Israel lege es darauf an, auf der einen Seite „tausendjährige Spuren der jüdischen Vergangenheit in Palästina zum Vorschein zu bringen“ und auf der anderen Seite „die realen Spuren der arabisch-palästinensischen Vergangenheit zu zerstören“ (das wiederum ist ein Bezug auf Edward W. Said). Ebenso werde in Israel die Historiografie der Vertreibung der Palästinenser 1948, der Nakbah, unterdrückt. „Diese Erinnerung und Geschichtsschreibung blieben bis heute auf die arabische Welt beschränkt, sie verstoßen sowohl gegen den zionistischen Bericht als auch gegen das historische Bewusstsein der westlichen Welt.“

Traverso folgt der schon erwähnten Doppelstrategie: die Berechtigung der jüdischen Perspektive verbal anzuerkennen – und dies de facto nicht zu tun. Es gehe ihm nicht darum, die „Erinnerung auszuschließen, sondern sie auf Distanz zu halten und sie in ein größeres historisches Ensemble einzufügen“, aber dabei hält er sie so weit auf Distanz, dass sie sein historisches Urteil nicht mehr affizieren kann. Man könne auch verstehen, dass für einen jüdischen Historiker die Shoah einmalig sei, aber dieser dürfe diesen Völkermord nicht zum einzigen in der Geschichte machen. Dass die Shoah singulär ist, ist für Traverso nun nicht eine Einsicht, zu der man nach einem eingehenden Vergleich historischer Fakten gelangt, sondern nur noch die Perspektive jüdischer Erinnerung.

Auch wenn Traverso weiß, dass „eigentlich jede historische Arbeit auch indirekt ein Urteil über die Vergangenheit“ enthält, dass die Wahrheit des Historikers sich nicht darauf beschränkt, „die Fakten zu etablieren, sondern versucht, auch sie in ihren Kontext zu stellen“ und dass „dieselben Fakten zu unterschiedlichen Wahrheiten“ führen, so verfolgt er doch das Ziel, historische Objektivität zu etablieren. Dabei zeigt sich allerdings zum einen, wie wenig er von dem weiß, was er als partikulare Perspektive auf Distanz halten will, und zum anderen, wie unkritisch er dem gegenüber steht, was er als Quellen historischer Objektivität ansieht.

Denn mitnichten ist es so, dass die Erinnerung eines Überlebenden für diesen auf Grund seiner Subjektivität „keine Beweise für den [benötigt], der sie in sich trägt“. Diese Unterstellung würde schnell zerstreut durch einen Blick in die entsprechende Literatur. Aber diese kommt bei Traverso nicht vor, und seine Sprache zeigt, wie er sich diese Erinnerungen und damit die Realität des Holocaust jenseits imaginierter Amtsstuben von Schreibtischtätern vom Leibe hält. Wenn sich Überlebenden immer wieder verzweifelt das Problem stellt, dass die konventionelle Sprache auch in ihren drastischen Ausdrücken nicht hinreicht, um die Realität in den Lagern und ihre Gefühle zu beschreiben, so schwanken Traversos Beschreibungsversuche zwischen Ahnungslosigkeit und Verharmlosung: Ein „Zeitzeuge“ erinnere sich an „Geräusche, Stimmen, Gerüche, Angst und an das Fremdsein bei Ankunft im Lager“ oder auch an „die Müdigkeit einer langen Reise“. ‚Lärm, Geschrei, Gestank, Terror, Panik, Todesangst, Verzweiflung und Entsetzen‘ sind bereits zu schwach als Beschreibung. Und „Müdigkeit“ war das geringste Problem für den, der nicht „eine lange Reise“ hinter sich hatte, wie jemand, der in den Urlaub fährt und behaglich müde im Badeort ankommt, sondern der mehrere Tage zwischen wahnsinnig gewordenen Menschen, Leichen, Kot, Urin und Verwesung, in quälender Hitze oder tödlicher Kälte halb verhungert und verdurstet eingequetscht war.

Aber es sind die Stimmen, die hiervon erzählen, die Traverso ignorieren und delegitimieren muss, damit er sein Werk der beharrlichen Geschichtsumdeutung fortführen kann: zunächst das Volksmärchen der zivilisationsmüden Intellektuellen vom intimen Zusammenhang von Holocaust und Moderne – nun das ‚mutige‘ Aufbegehren gegen die jüdische Deutungshoheit der Geschichte sowie die Sage vom geheimen Europa.

Titelbild

Enzo Traverso: Gebrauchsanweisungen für die Vergangenheit. Geschichte, Erinnerung, Politik.
Übersetzt aus dem Französischen von Elfriede Müller.
Unrast Verlag, Münster 2007.
107 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783897714700

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Enzo Traverso: Im Bann der Gewalt. Der europäische Bürgerkrieg 1914-1945.
Übersetzt aus dem Französischen von Michael Bayer.
Siedler Verlag, München 2008.
400 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783886808854

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