(Hetero-)sexistische ÄrztInnen

Dominik Groß gibt einen Sammelband zu geschlechtsspezifischen Unterscheidungen und Rollenzuschreibungen im Wandel der Zeit heraus

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thales von Milet, einer der Sieben Weisen aus der Ursprungszeit griechischer Philosophie, erklärte, keine Kinder in die Welt setzen zu wollen, und zwar gerade aus Liebe zu ihnen. So zumindest hat es Diogenes Laertus überliefert. Zwar werden sich seither nur wenige ein Beispiel an Thales genommen haben. Dass Kinderwunsch und Kindeswohl durchaus in Konflikt geraten können, dürfte jedoch unbestritten sein. Dennoch wird es zumindest hierzulande niemandem verwehrt sich fortzupflanzen. Jedenfalls solange dies ohne medizinischen Beistand möglich ist. Andernfalls ergreifen die IatrokratInnen das Wort. So besagen die von der Bundesärztekammer verfassten „Richtlinien zur Durchführung der assistierten Reproduktion“, dass Singles und lesbischen Paaren ihr Kinderwunsch nicht mithilfe einer Samenspende erfüllt werden darf.

Diesen Skandal nimmt Tobias Fischer zum Anlass, der „Frage nach der Reichweite des reproduktiven Selbstbestimmungsrechts der Frauen“ und der damit verbundenen „Rolle“ nachzugehen, die weiblichen Singles und Lesben „zugewiesen“ wird. Wie Fischer darlegt, wird dieser Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht damit begründet, dass MedizinerInnen „die Pflicht“ hätten, „die medizinische Therapie am Wohl des zu zeugenden Kindes auszurichten“. Eben darum seien auch die „Zugangsvoraussetzungen“ für heterosexuelle Paare „streng“. Voraussetzung sei etwa, „dass die Frau mit einem (nicht anderweitig verheirateten) Mann in einer ‚festgefügten Partnerschaft‘ zusammenlebt und dieser das zu zeugende Kind als das seine anerkennt.“

Denn die Bundesärztekammer unterstellt, dass das Wohl eines heranwachsenden Menschen „durch das Fehlen eines festen männlichen Partners […] automatisch in Gefahr“ ist. Eine Haltung, der Fischer bescheinigt, auf „traditionellen Vorstellung einer ‚Vater-Mutter-Kind‘-Beziehung“ zu beruhen. Man könnte auch schärfer formulieren und von einem reaktionären Familienideal sprechen. Die Reproduktionsmedizin kann das Recht mitzubestimmen, „welche Frauen ein Kind mit Hilfe von Spendersamen bekommen dürfen“, Fischer zufolge nur damit begründen, „dass es sich eben nicht um natürliche Fortpflanzung handelt“. Damit übernimmt er die Unterscheidung zwischen natürlicher und nicht natürlicher (oder gar unnatürlicher) Fortpflanzung, ohne das geklärt wäre, was natürliche Fortpflanzung ist, und ob es sie überhaupt geben kann.

Letzteres ist durchaus zweifelhaft, zumindest bei der menschlichen Spezies. In dem Moment, in dem die Angehörigen einer Kultur auch nur die Möglichkeit kennen, absichtsvoll in die Fortpflanzung einzugreifen, gibt es keine natürliche Fortpflanzung mehr. Denn auch die Entscheidung, nicht einzugreifen, ist stets kulturell (mit)bedingt. Und die Möglichkeit, darüber zu entscheiden, ein Kind zu bekommen oder nicht, eröffnete sich nicht erst mit der Erfindung der Pille oder des Kondoms, sondern bereits in dem Moment, in dem der Zusammenhang zwischen Geschlechtsverkehr und Schwangerschaft erkannt wurde. Er liegt also in grauer Vorzeit.

Überlegungen, die Fischer nicht anstellt. Stattdessen übernimmt er die Auffassung der ÄrztInnenschaft, „dass bei alleinstehenden Frauen mit Kinderwunsch weder die soziale Sicherheit für das Kind noch dessen (mutmaßliches) Bedürfnis nach zwei Elternteilen ohne Weiteres gewährleistet ist“. Bei der Zeugung eines Kindes ist die künftige soziale Sicherheit ebenso wie die künftige Anwesenheit des Vaters allerdings nie gewährleistet. Und ob die Aussichten auf eine glückliche Kindheit durch die Anwesenheit eines männlichen Partners der Mutter erhöht werden, ist noch lange nicht ausgemacht. Man weiß bekanntlich von allzu vielen Fällen, in denen das Gegenteil der Fall war. Fischer aber meint, einer „Zulassung alleinstehender Frauen zur donogenen Insemination“ sei „nur im Einzelfall und unter Vorbehalt zuzustimmen“. Immerhin aber erhebt er keine Einwände gegen die „grundsätzliche Zulassung von lesbischen Paaren“.

Publiziert wurde Fischers Aufsatz in einem von Dominik Groß herausgegebenen Band über „geschlechtsspezifische Unterscheidungen und Rollenzuschreibungen im Wandel der Zeit“. Groß’ Darlegung, nicht nur Schwangerschaft sondern sogar die Reproduktion insgesamt sei das „ureigene Terrain“ der Frauen, kollidiert zwar auf eklatante Weise mit der Sichtweise der Bundesärztekammer, ist aber auch nicht viel besser als deren patriarchalische Bevormundung von Frauen, die sich künstlich befruchten lassen möchten. Könnte man doch meinen, Groß glaube, dass sich die Menschheit mittels Parthenogenese fortpflanzt und Männer mit der Reproduktion rein gar nichts zu tun zu haben.

Allerdings liegt Groß mit seiner Auffassung ganz und gar auf der Linie jener sexistischer Erhebungen, die regelmäßig in allen Medien genaustens darüber Auskunft erteilen, warum welche Frauen wie viele Kinder bekommen oder eben nicht, ohne dass sich die Statistiken je auch nur im geringsten dafür interessieren würden, wie viele Männer Väter von wie vielen Kinder sind und warum es wie viele andere vorziehen, auf Vaterschaft zu verzichten. Wie sehr Groß Weiblichkeit an Mutterschaft bindet, wird auch daran deutlich, dass er weiter ausführt, die „Rollenzuschreibung der Frau im Kontext der Reproduktionsmedizin“ könne „als ‚Lackmustest‘, als Indikator für ihre (Karriere)chancen in Gesellschaft und Wissenschaft gelten“. Gerade so, als würden ausnahmslos alle Frauen Mütter werden (wollen). Frauen, die mit Mutterschaft nichts im Sinn haben, scheinen in Groß’ Universum hingegen nicht vorzukommen. Sehr wohl zutreffend ist sein Befund allerdings für Mütter und Frauen mit Kinderwunsch.

Herausgeber Groß weist im Vorwort nicht nur darauf hin, dass der vorliegende Band aus dem an der RWTH 2008 abgehaltenen Tag der Wissenschaftsgeschichte hervorgegangen ist, von der er den Titel „Gender schafft Wissen – Wissenschaft Gender?“ übernommen hat, sondern führt auch aus, dass sich der Band „mit historischen, gegenwärtigen und künftigen Rollen von Frauen in den Wissenschaften beschäftigt“ und das Ziel verfolgt, „sowohl den Umgang mit als auch die Bedeutung von Frauen in den Wissenschaften […] zu verdeutlichen, Orientierungswissen bereit zu stellen und Ergebnisse zu liefern, die für anstehende Förderinitiativen nutzbar gemacht werden können.“ Nun ist zwar öfter der Vorwurf zu hören, wo Gender drauf steht sei Frauenforschung drin. Dass allerdings tatsächlich ein Band den Begriff im Titel führt – und das auch noch gleich zweimal –, laut Einleitung aber nur das weibliche Geschlecht thematisiert, ist so neu wie unerfreulich.

Doch schon ein Blick ins Inhaltsverzeichnis erweist, dass sich die Beitragenden tatsächlich nicht ausschließlich mit Frauen befassen, sondern durchaus auch Gender thematisieren. Allerdings beschäftigen sich einige der Beitragenden wirklich ausschließlich oder doch ganz überwiegend mit dem weiblichen Geschlecht. So begibt sich Christine Roll auf die Suche nach „Frauen in der Wissenschaft(sgeschichte)“ und David Engels folgt den Spuren „weibliche[r] Intellektuelle[r] in Spätantike und Islam“.

Andere aber gehen wie Walter Oberschelp „der geschlechtsspezifischen Ausrichtung mathematischer Schulbücher im Nationalsozialismus“ oder wie Anika Schleinzer „frühen Modellen von Baukästen als geschlechtsneutralen Artefakten technischen Spielzeugs“ nach. Und sogar Groß selbst hat gemeinsam mit Fischer und Gereon Schäfer zwei Artikel zur „Entwicklung der zahnärztlichen Profession im wiedervereinigten Deutschland in genderspezifischer Perspektive“ beigesteuert.

Ute Habel vergleicht die Emotionen der Geschlechter hinsichtlich „Verhalten, Erleben und neuronale[r] Korrelate“. Angesichts elektromyografischer Messungen, die ihr zufolge die stärkere emotionale Ausdrucksfähigkeit von Frauen belegen, erkennt sie immerhin an, „dass hier Geschlechterrollenstereotype und soziale Display Rules von Einfluss sind“. Doch hält sie dessen ungeachtet an der biologi(sti)sche Argumentation fest, die besagt „Geschlechtsunterschiede bei emotionalen Prozessen“ seien „neurobiologisch begründet“, [Herv. R.L.] also, so muss man wohl hinzufügen, nicht etwa nur beeinflusst. Möglich wäre allerdings sogar auch, dass sozial und kulturell verursachte geschlechterspezifische emotionale Unterschiede auf neuronaler Ebene nur ihre (sekundäre) Entsprechung finden. Doch das wird von Habel nicht erwogen. Anzumerken ist zudem, dass ihr Beitrag nicht von einem sonderlich reflektierten Blick auf „funktionell bildgebende Verfahren“ zeugt.

Wie Fischer in seinem Beitrag zur „genderspezifischen Diskriminierung in der Reproduktionsmedizin“ und Herausgeber Groß im Vorwort befasst sich auch Dagmar Schmitz mit Fragen der Fortpflanzung. Thema ihres Aufsatzes ist „die Rolle der Schwangeren in der Pränataldiagnostik“. Zunächst fragt die Autorin, warum „die geforderte ‚freie‘ Entscheidung der Schwangeren im pränataldiagnostischen Setting überhaupt so wichtig“ ist, um anschließend die Veränderungen der „Wahrnehmung und Bedeutung der Entscheidungsfreiheit der Schwangeren“ im Laufe der nunmehr seit vierzig Jahren praktizierten Pränataldiagnostik zu erörtern. Mit ihrem Hinweis, ein Schwangerschaftsabbruch habe „für Dritte“, nämlich „das ungeborene Kind“, „gravierende Folgen“, macht sie sich nicht nur ein Argument vermeintlicher LebensschützerInnen zu eigen, sondern auch deren obskuren Kampfbegriff. Denn selbstverständlich gibt es keine ungeborenen Kinder. Ebenso wie es keine ungeborenen Jugendliche, ungeborene Erwachsenen, ungeborene GreisInnen oder überhaupt ungeborene Menschen gibt. Was es gibt, das sind Ei, Samen, Zellhaufen, Embryos, Föten. Später können daraus einmal Kinder, Jugendliche und erwachsene Menschen werden. Dazu müssen sie aber eben erst geboren worden sein. Wie überlegt der Begriff der ‚LebensschützerInnen‘ jedoch gewählt ist, zeigt sich an dem Umstand, dass sie nicht etwa von ungeborenen Menschen, sondern dezidiert von ungeborenen Kindern sprechen. Denn damit wird an einen Schutzreflex gegenüber Kindern appelliert.

Auch an anderer Stelle sticht Schmitz’ merkwürdige Terminologie hervor. So spricht sie von „den Patienten“ und meint Schwangere. Das ist doppelt fragwürdig, nicht nur weil ausschließlich Frauen gemeint sind, und es in sofern Patientinnen heißen müsste. Zudem ist Schwangerschaft keineswegs eine Krankheit, so dass weder der Begriff Patient, noch dessen weibliche Form Patientin wirklich treffend ist. Und schließlich beschwört die Autorin auch noch „die Gefahr, dass der Arzt sich gänzlich aus dem Prozess der [einen Schwangerschaftsabbruch betreffenden] Entscheidungsfindung zurückzieht, statt gemeinsam mit der Schwangeren nach einer Entscheidung zu suchen“, und propagiert die „partnerschaftliche Entscheidungsfindung“ beider. Doch ÄrztInnen sind Dienstleister, zu deren Aufgaben es zählt, der Schwangeren alle notwendigen Informationen für ihre alleinige Entscheidung zu liefern und ihr allenfalls beratend zur Seite stehen. Hingegen sollte sie durchaus nicht befugt sein, (mit) zu entscheiden.

Fischer sieht das im gleichen Band entgegen der hier vertretenen Auffassung allerdings ganz ähnlich wie Schmitz, wenn er erklärt, dass das dem „Autonomieprinzip“ zugrundeliegende „Patientenbild“ des „mündigen und autonomen Partners, der am medizinischen Entscheidungsfindungsprozess beteiligt wird“, spätestens dann „kritisch hinterfragen“ werden müsse, „wenn die Berufung auf die Autonomie mit der Forderung an die Medizin verwechselt wird, als reiner Dienstleister zu fungieren.“ Dem ist noch einmal entgegenzuhalten, dass denjenigen das Entscheidungsrecht zukommt, die von den Folgen eben dieser Entscheidung betroffen sind. Und das ist nicht der Arzt oder die Ärztin. Es sind die Schwangeren; wie es überhaupt nie die ÄrztInnen sind, sondern immer diejenigen, die sie konsultieren. Von dem alleinigen Entscheidungsrecht der Konsultierenden unbenommen ist die Freiheit der ÄrztInnen sich zu weigern, Maßnahmen durchzuführen, die strafrechtlich relevant sind, oder den eigenen ethischen Prinzipien widersprechen. Und wenn Fischer fordert, dass die Medizin nicht „Erfüllungsgehilfe einer kritik- und grenzenlosen Patientenautonomie sein“ dürfe, so bleibt zu hoffen, dass er ‚nur‘ für das ärztliche Recht plädiert, bestimmte von PatientInnen erwünschte Behandlungen zu verweigern; nicht aber für Zwangsbehandlungen.

Titelbild

Dominik Gross (Hg.): Gender schafft Wissen - Wissenschaft Gender. Geschlechtsspezifische Unterscheidungen und Rollenzuschreibungen im Wandel der Zeit.
Kassel University Press, Kassel 2009.
342 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783899584493

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