Eisnägel im Regen

Über Herta Müllers Roman „Atemschaukel“

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ohne Oskar Pastiors Details aus seinem Lageralltag hätte ich es nicht gekonnt“, erklärte Herta Müller über das Zustandekommen ihres neuen, unter die Haut gehenden Romans „Atemschaukel“, dessen Handlung in einem sowjetischen Arbeitslager für Rumäniendeutsche angesiedelt ist.

Der aus Siebenbürgen stammende Schriftsteller und Georg-Büchner-Preisträger Oskar Pastior (1927-2006) hat ein solches Lager nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs überlebt – ebenso Herta Müllers Mutter, die aber nicht die Kraft fand, über ihre Erlebnisse zu reden.

Die Handlung setzt im Januar 1945 ein, die deutschsprachige Minderheit des zunächst mit Hitler-Deutschland verbündeten Rumänien wird in Angst und Schrecken versetzt, weil Männer und Frauen im arbeitsfähigen Alter von der roten Armee deportiert werden, um die durch den Krieg zerstörte Sowjetunion (vor allem die Ukraine) wiederaufzubauen.

Die 56-jährige Herta Müller, die 1987 aus dem totalitären Ceaucescu-Staat nach Berlin übersiedelte, erzählt die fünf grausamen Lagerjahre aus der Perspektive eines jungen Mannes aus Hermannstadt, dessen Vita augenfällige Parallelen zu Oskar Pastiors Lebensweg aufweist. Jener Leo Auberg hatte sich seit einiger Zeit danach gesehnt, sein nationalsozialistisch angehauchtes Elternhaus verlassen zu können und in die Fremde auszubrechen. Doch Leos vermeintliche Flucht in ein neues Leben führt ihn geradewegs in die Hölle. Naiv und unbefangen sind die meisten Rumäniendeutschen in die Arbeitslager gestartet, nicht ahnend, dass sie ein ellenlanger, unbarmherziger Überlebenskampf erwartet. Leos Großmutter hatte ihm einen Satz mit auf den Weg gegeben, der sich in sein Gehirn eingebrannt hat: „ICH WEISS DU KOMMST WIEDER.“ Stets tauchen diese Wort in Versalien auf, schon optisch aus dem Text herausragend.

Die Macht im Lager übernimmt nicht etwa der brutale und leicht einfältige Kapo Tur Prikulitsch – eine Figur, die in Herta Müllers Zeichnung fast alle denkbaren negativen Eigenschaften in sich vereint –, auch nicht der russische Lagerkommandant, sondern der „Hungerengel“, ein Phantom aus der Fantasiewelt, das (Überlebens)Weisheiten von sich gab: „Speichel macht die Suppe länger, und früh Schlafengehen macht den Hunger kürzer.“

Der Alltag der Lagerinsassen wird mechanisch: Arbeiten, ein klein wenig essen und schlafen – und vor allem nicht unangenehm auffallen. Für das Miteinander im Lager gibt es eigene Gesetze, die beispielsweise drakonische Strafen bei Vergehen wie Brotdiebstahl vorsehen.

„Zu spät ins Lager zu kommen, war schlimm. Dann war die Suppe alle. Dann hatte man nichts außer dieser großen leeren Nacht mit den Läusen. Ich esse seit meiner Heimkehr aus dem Lager, seit sechzig Jahren, gegen das Verhungern“, bekennt Herta Müllers Protagonist. Das sind Sätze, die zunächst ziemlich simpel klingen, aber dennoch von existenzieller Tiefe sind. Hier wird nicht poetisiert, sondern die Sprache wirkt in den wenigen lyrischen Passagen gerade so, als seien es O-Töne von Oskar Pastior: „Schon Ende Oktober schneite es Eisnägel in den Regen.“

Ein kurzes Aufblühen menschlicher Gefühle, einen kleinen Hoffnungsschimmer am düsteren Horizont vernimmt Leo, als er einer Russin begegnet, deren etwa gleichaltriger Sohn ebenfalls in einem Arbeitslager ist und die ihn mit einem reichhaltigen Essen und mit einem feinen Taschentuch beschenkt. Dieses Taschentuch und die in seine Erinnerung eingemeißelten Worte der Großmutter bilden ein wackliges, aber widerstandsfähiges Überlebensgerüst. In Lager in der ukrainischen Steppe geraten Raum und Zeit ins Wanken: der Kontakt mit der Außenwelt reißt fast völlig ab, der Alltagstrott beschert einen aufzehrenden Kampf gegen Hunger und Kälte.

Daheim hat man ihn offensichtlich aufgegeben. Zumindest fühlt Leo so, als er die grußlose Geburtsanzeige seines 1947 zur Welt gekommenen Bruders Robert erhält. Nach fünf Jahren kehrt der Protagonist als 22-jähriger heim – gezeichnet, ein Mensch ohne Jugend, gealtert wie im Flug und nicht in der Lage, mit sich und seinen Erlebnissen einen inneren Frieden zu schließen: „Fünfundzwanzig Jahre habe ich in Furcht gelebt, vor dem Staat und vor der Familie. Vor dem doppelten Absturz, dass der Staat mich als Verbrecher einsperrt und die Familie mich als Schande ausschließt.“

Diesen Roman Herta Müllers kann man nicht nur lesen, man kann ihn körperlich fühlen. Die glasklare Sprache evoziert erschreckende Gefühle und setzt handfeste Existenzängste frei. Mehr kann Literatur kaum leisten. Herta Müllers „Atemschaukel“ darf man ungeniert in einem Atemzug mit Imre Kertész’ Meisterwerk „Roman eines Schicksallosen“ nennen.

Titelbild

Herta Müller: Atemschaukel. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2009.
304 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446233911

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