Ein Erdbeben, zwei Neugeborene und das Zeitalter der Ismen

In Norbert Zähringers drittem Roman „Einer von vielen“ spielt das 20. Jahrhundert die Hauptrolle

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es kann einem schon ein bisschen Angst und Bange werden angesichts all der Namen, die Norbert Zähringer seinem Leser präsentiert, noch bevor dieser die erste Seite seines neuen Romans überhaupt aufgeschlagen hat. Da steht zwar einer eindeutig im Mittelpunkt – Edison Frimm – aber um ihn herum wimmelt es nur so von Gestalten aus aller Herren Ländern samt unzähligen Linien, die zur Markierung der Verbindungen zwischen ihnen dienen.

Das auf den ersten Blick schwer zu durchschauende Gewirr legt den Schluss nahe, dass fast alle sich hinter den vielen Namen verbergenden Personen auf irgendeine Weise miteinander zu tun haben. Nur am äußersten linken Rand der Grafik schwebt wie ein kleiner, separater Planet in diesem Namenskosmos eine Siebenergruppe von Personen, in deren Mitte sich der „Wachmann“ – für Zähringer-Leser kein Unbekannter mehr – findet. Er ist die einzige Figur in dem ansonsten auktorial erzählten Buch, die in der „Ich“-Form auftreten darf. Und die „leeren Räume“, zu deren Schutz er bestellt ist, vermag allein er mit Erinnerungen aufzufüllen.

Jenes eingangs erwähnte Unbehagen angesichts der überwältigenden Figurenfülle hält aber nicht lange an. Schon auf den ersten Seiten wird nämlich ersichtlich, dass „Einer von vielen“ im Grunde auf eine einzige Geschichte reduzierbar ist – die des 20. Jahrhunderts. Zu diesem Zweck lädt der Autor seine Leser zu einer Zeitreise auf dem fliegenden Teppich ein – „The magic Carpet“ heißt auch ein angloamerikanischer Bomber innerhalb des Romans, in dem es für eine Filmcrew, die Heldentum zum Zwecke der gefälligen Nachahmung simuliert, plötzlich bitterernst wird, und setzt ihn mal hier, mal da ab. Zuerst – in einer Art Rahmenhandlung – im Jahr 2003 auf einer Brücke nahe dem kalifornischen Berkeley, wo sich der gerade 80 Jahre alt gewordene Held Zähringers nach einem 18-monatigen Gefängnisaufenthalt in den Tod stürzen will, weil er an der Alzheimer-Krankheit leidet. Frimm will alles mit hinübernehmen, woran er sich erinnern kann, und zwar in der richtigen Reihenfolge. Er hat sich zu dem radikalen Schritt entschieden, allerdings konnte er nicht voraussehen, dass sich zwei Kinder seinem Vorhaben in den Weg stellen, die ein gutes biografisches Argument besitzen, den alten Mann in den Kreis der Weiter-leben-Wollenden zurückzuholen.

Von diesem End- respektive Neuanfangspunkt ausgehend werden in insgesamt sieben Romanteilen auf knapp 500 Seiten Rückblicke auf das Leben von einem knappen halben Dutzend über die ganze Welt verteilten Protagonisten präsentiert ohne weiter in die unmittelbare Gegenwart vorzudringen. Zu dem am 1. September 1923 geborenen Flimm gesellt sich der am selben Tag in Berlin zur Welt gekommene Siegfried Heinze, dessen Vater Adolf zu einem der ersten „Märtyrer der Bewegung“ wird und dem Sohn damit ein Lebensmuster vorgibt, aus dem der sich erst während der letzten Tage des Zweiten Weltkriegs zu lösen vermag. In den Fall um den auf offener Straße erschossenen SA-Mann Adolf Heinze verwickelt ist wiederum ein Berliner Polizeikommissar namens Mauser, dem sich Jahre später, in den Untergangswirren des „Dritten Reichs“, die verblüffende Wahrheit um diesen ersten Mord, mit dem eine ganze Serie lange Zeit ungeklärter Verbrechen beginnt, eröffnet.

Weiter dabei sind der Japaner Toshiro Koga, der dem verheerenden Erdbeben entkommen ist, das die japanischen Städte Tokio und Yokohama just an Flimms und Heinzes erstem Lebenstag verwüstet, und nun in den USA einen Neuanfang sucht, sowie Bebo Globodajarian, Exilant aus Armenien, den es in der Welt umhertreibt, ohne dass er irgendwo wieder Wurzeln schlagen könnte. Sie alle folgen Wegen, die, selbst wenn sie für kurze Momente geradlinig erscheinen, verschlungen sind, aber doch einen gemeinsamen Fluchtpunkt besitzen, auf den hin sie erzählt werden.

Zähringers große Kunst ist es bei all dem, nie die Fäden aus der Hand zu verlieren, seinen Fantasiegeschöpfen Raum für erzählerische Seitensprünge zu lassen. Geglückt sind die vielen in den Roman eingelegten kleinen Geschichten und Geschichtchen, von denen etliche ganz für sich allein stehen könnten, ihre Schicksale andererseits aber auch diszipliniert parallel beziehungsweise aufeinanderlaufen zu lassen. Das gelingt ihm äußerst gut – und damit keiner seiner vielen Erzählfäden am Ende unverknüpft aus dem Romangewebe heraushängt, hat er sich auch noch einen Coup für das Finale aufgespart.

Bis dahin ist es alles in allem ein kurzweiliger Weg. Man begegnet auf diesem Ronald Reagan und Willy Brandt, unzähligen Filmzitaten und Anspielungen auf Filme – „Casablanca“ darf man erkennen, Motive aus „M“ von Fritz Lang klingen an, der Prolog ist „Die Brücke“ überschrieben und erinnert damit natürlich an Bernhard Wickis berühmtes Kriegsdrama, Zähringer selbst weist in einer den Roman beschließenden Anmerkung zu seinen Inspirationsquellen auf den „Dieb von Bagdad“ und „Der Kommandeur“ von Henry King hin –, sowie der von unterschiedlichen Protagonisten vertretenen Idee, jeder einzelne Mensch auf dieser Welt sei mit allen anderen Menschen über teils sichtbare, teils verborgene Kanäle verbunden.

„Einer von vielen“ erweist sich letzten Endes mit seiner Erzählanlage und -durchführung als Nagelprobe dieser These. Was seine Figuren lediglich zu hoffen wagen – „Wie er da so stand und in die Finsternis blickte, hoffte er auf einmal, dass irgendwo noch ein anderer stünde und wie er in die Nacht schaute. Dass es da draußen noch einen gäbe. Nur einen Einzigen. Mehr nicht.“ –, demonstriert das Buch gelassen, indem es seine humane Art globalen Miteinanderverbundenseins letzten Endes allen Versuchen des Jahrhunderts der Ismen, eine Gemeinschaft von Menschen künstlich aus dem Boden zu stampfen und dabei nicht davor zurückzuscheuen, Millionen Andersdenkende in Tod und Vernichtung zu treiben, gegenüberstellt.

Titelbild

Norbert Zähringer: Einer von vielen. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2009.
486 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783498076641

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