Von Nietzsche zu Hitler

Thomas Wolf über Otto Pöggelers "Heidegger in seiner Zeit"

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Als ob eine List des Seins am Werke gewesen sei, erblickten in dem Jahr, als Nietzsche in geistige Umnachtung fiel, einerseits einer der wirkungsmächtigsten Denker, andererseits der wohl verheerendste Diktator der Moderne das Licht der Welt. Und noch posthum bestimmen beide das philosophische wie politische Geschehen. Der Philosoph Martin Heidegger (1889 - 1976) ist mit seiner Person wie durch seine Philosophie so tief in die Geschichte des 20. Jahrhunderts verstrickt, dass die Debatte um sein politisches Engagement als Rektor der Freiburger Universität nicht abreisst, sondern mit zur Selbstreflexion einer intellektuellen Epoche beizutragen scheint. Zwar wies, Pöggeler zufolge, eine amerikanische Heidegger-Tagung im Jahr 1983 mit dem provokanten Titel "Von Hitler zu Nietzsche" völlig zu Recht darauf hin, "daß Heidegger seit 1936 mit seinen Nietzsche-Vorlesungen sein Engagement für Hitler" aufgelöst und eine "angemessenere Zeitdiagnose" gesucht habe, vergaß dabei jedoch, "daß Heidegger seit 1929 entscheidend durch Nietzsche auf den Weg zu Hitler gebracht" worden ist, denn "geschichtliche Größe sollte in der tragischen Lebenserfahrung gefunden werden".

Der Band "Heidegger in seiner Zeit" versammelt überwiegend bereits publizierte Aufsätze und Vorträge des emeritierten Bochumer Philosophen und gibt damit dem Bedürfnis Ausdruck, den Seinsdenker aus Messkirch wieder enger auf diejenigen Kontexte zu beziehen, aus denen sein Denken erwachsen ist. Denn neben der offenkundigen Tendenz zur Mythisierung sorgt die bereits zum Monument geratene "Gesamtausgabe letzter Hand" auch für ein gesteigertes Interesse an der pluralen Entfaltung des Heideggerschen Philosophierens und seiner Probleme. Seit dem Standardwerk "Der Denkweg Martin Heideggers" (1963) gehört Pöggeler zu den anerkannten Interpreten, die ihren Blick immer wieder auf den Gesamtkomplex jenes Denkens gerichtet und dessen Entwicklung in den Zusammenhang mit persönlichen und kulturellen Krisen gestellt haben. So weisen auch die hier in fünf thematischen Schwerpunkten gruppierten Beiträge wiederholt auf gewisse Anekdoten, Begegnungen und Umstände hin, die für Heidegger als Wegmarken entscheidend waren oder ihn auf Holzwege führten: "Logik und Zeit", "Ethik und Gemeinschaft", "Politik und Technik", "Religion und Kunst" sowie der philosophische Kontext sind die weiten Felder, die Pöggeler in Heideggers Denken zu bestellen sucht.

Neben der zuweilen gewaltsamen Auslegung der abendländischen Tradition von Platon bis Nietzsche waren es vor allem die Auseinandersetzungen mit den Vorläufern und Zeitgenossen, die oft auf Umwegen das lebenslange Fragen nach dem Sein und der Zeit bestimmten. Seine frühen Vorlesungen der Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts in Freiburg und Marburg gehörten wohl zu den prägendsten Erfahrungen einer ganzen Generation von Studierenden, wie z. B. Karl Löwith, Hans-Georg Gadamer, Hannah Arendt oder Hans Jonas, die die Anstöße ihres Lehrers gegen diesen selbst zu wenden wussten und sich um eine "Rehabilitierung der praktischen Philosophie" verdient gemacht haben. Bei aller Nähe zu den damaligen - und mutatis mutandis auch heutigen Diskussionen bleibt Heidegger jedoch der zeitgemäß Unzeitgemäße, der sich nicht auf Schlagworte wie Existenzphilosophie, Seinsgeschichte, Hermeneutik oder etwa Postmoderne festlegen lässt. Pöggeler verschweigt nicht, dass Heideggers Analysen bisweilen an der Vielschichtigkeit von Kunst, Politik oder Technik vorbeigingen und auch die Kritik der ihm Wohlgesonnenen provoziert haben. Besonders aber der Irrtum, die Krise der europäischen Zivilisation durch die Teilnahme am nationalsozialistischen Aufbruch beantworten zu wollen, provoziert die Frage nach der Rolle der Philosophie für verantwortungsvolles Handeln. Hier jedoch gibt Pöggeler keine direkte Antwort, sondern beschränkt sich auf die kenntnisreiche Rekonstruktion der Etappen und Motive des Heideggerschen Denkweges. Von besonderem Gewicht ist dabei der theologische und religiöse Hintergrund Heideggers: so sei es der "Glaube der Herkunft" gewesen, der die strenge Wissenschaft der Husserlschen Phänomenologie zu einer Interpretation des faktisch-endlichen Lebens umzugestalten half, um dann letztlich als ein mystisch-mythisch anmutendes "anderes Denken" der technologischen Moderne entgegentreten zu können. In "Sein und Zeit" kulminierten die Versuche, die Tendenzen der Zeit ontologisch zu fassen. Nach der gescheiterten Synthese von Aristoteles und Nietzsche erlaubte aber nur noch Hölderlin eine Deutung der "dürftigen Zeit", die vollends dem Nihilismus einer planetarischen Technik zu unterliegen drohte.

Man mag Heideggers theoretische und praktische Entscheidungen vor dem Hintergrund zeitgenössischer Krisen und Kontexte differenzierter sehen - angesichts der komplexer gewordenen Weltlage wird seine zunehmende Neigung zur Nivellierung dadurch nicht verständlich. Pöggeler selbst sieht in Heideggers Denken sowohl Ausflucht als auch Besinnung, doch die Lehren, die er daraus für die gegenwärtige Philosophie zu ziehen versucht, bleiben mehr als vage: "Das Rettende kann nur wachsen, wenn die Menschheit im ganzen Verantwortung für das immer gefährdete und immer endlich und begrenzt bleibende Leben auf diesem bestimmten Planeten übernimmt."

Pöggelers Stärke liegt zweifellos im weiten Blick über die philosophischen Untiefen des vergangenen Jahrhunderts; Untiefen, die in Heideggers Denken exemplarisch geworden sind. Seine Kritik an den Konsequenzen geht aber über Hinweise und Andeutungen nicht hinaus, so dass die fortwährende Betonung des Krisenmomentes in Leben und Werk wenig erklärt, da es kaum mit anderen Krisisdiagnosen jener Zeit und deren Implikationen in Beziehung gesetzt wird. Das Faszinierende an Heideggers Philosophie ist die Umarmungstaktik, mit der er traditionelle wie zeitgenössische Positionen vereinnahmt und ihre Schwachstellen freilegt, doch gerät man zu leicht in den Bann einer vermeintlich "ursprünglichen" Interpretation. Selbstverständlich ist Pöggelers behutsame Auseinandersetzung über diesen Zweifel erhaben, doch erfährt der Leser zu wenig über die Möglichkeiten, "mit Heidegger gegen Heidegger" und darüber hinaus zu argumentieren.

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Otto Pöggeler: Heidegger in seiner Zeit.
Wilhelm Fink Verlag, München 1999.
350 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3770533909

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