Gemütlich mit Gilb

Jochen Schimmang erzählt in seinem wunderbar taktvollen Roman „Das Beste, was wir hatten“ von der Kraft der Verbürgerlichung in der späten BRD

Von Lennart LaberenzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lennart Laberenz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die bürgerliche Gesellschaft ist die ungeheure Macht, die den Menschen an sich reißt, von ihm fordert, dass er für sie arbeite und dass er alles durch sie sei und vermittels ihrer tue“, heißt es in Georg Wilhelm Friedrich Hegels ‚Grundlinien der Philosophie des Rechts‘ von 1821. Schon damals ist die bürgerliche Gesellschaft ein Ausweitungsprinzip und normatives Instrument, ein Zwang, an dem alles zunehmend gemessen und sanktioniert wird. Das dies am Ende der Bundesrepublik nicht viel anders war, postuliert Jochen Schimmang in seinem wunderbar taktvollen Roman „Das Beste, was wir hatten“. Schimmang setzt seine Romanhandlung an, wo aus der gehegten, etwas langweiligen und vor allem gemütlichen BRD im 1980er-„Zeitalter einer vielnamigen Orientierungskrise“, wie es Odo Marquard nannte, schließlich das große Deutschland mit seinen vielnamigen Wichtigtuern wird. Jene, die sich aus der Dissidenz auf den Weg in das Herz der Republik gemacht hatten, bleiben plötzlich am Wegesrand zurück.

Gemächlich schält sich im Roman eine bildungsbürgerliche Dreieckskonstellation heraus, bei denen die einzelnen Charaktere von recht disparaten Enden ans gleiche bürgerliche Herz gerissen werden. Protagonist ist der unambitionierte Gregor, der es eher aus Versehen vom studentenbewegten Semi-Marxisten zum Carl-Schmitt-Lehrbeauftragten, später dann zum Berater des Kanzleramtsministers und von dort vermittels einer hübschen Stasi-Agentin wieder hinab in den akademischen Mittelbau schafft. Gregors wichtigster Bezugspunkt ist sein Freund Leo, der seit den gemeinsamen Studientagen teils aus dienstlicher, teils aus freundschaftlicher Motivation ein Auge auf Gregor und viele andere aus der studentisch aufgeheizten vom Staat unbedingt als „linksextrem“ bezeichneten Szene hält – der Mann ist Spitzel und wird später Mitarbeiter beim Verfassungsschutz. Dazu gesellt sich noch Anita, Leos Frau.

Jochen Schimmangs Bundesrepublik glaubt man sofort, dass ein wichtiges Kriterium alltäglicher Befürchtungen der Gilb war, der an den Vorhängen und vielleicht an der ganzen Gesellschaft sichtbar wurde. Den Bildungsbürgern war es mehrheitlich egal, sie waren beschäftigt mit der Suche nach dem besten Restaurant der Region. Alles hätte so weitergehen können. „Die Zeit war knapp bemessen, und keiner der Anwesenden, dachte Gregor viel später einmal, wird sie je vergessen.“ Dieser Satz, eigentlich einem Bob Dylan-Konzert zugedacht, steht aus Gregors und Leos Sicht rückblickend vielleicht für den ganzen Staat.

Schließlich aber, die Einheit dräut, der Kanzler drängt, werden all jene ironischen Pragmatiker überrollt: Beim Ausbau der Bundesrepublik zur machtorientierten Nation verlieren die drei ihren Boden unter den Füßen. Die Stasi macht Gregor im Zentrum der Macht untragbar, der spöttische Spitzel Leo sitzt auf seinem Beobachtungsposten und weiß selbst, dass er es eher mit Petitessen zu tun hat. Anita beginnt eine Affäre mit Gregor, liest Michel Foucault und beginnt – eine wohlfeile Ironie – als Aushilfskraft in einer Werbeagentur eine späte und bescheidene Karriere.

Die dynamische Ausweitung der Verbürgerlichung und der ausgeprägte Hang zum Privaten hat sie allesamt diszipliniert, die Republik hat ihnen hinterher allerdings den Lohn verweigert und sich nach Osten zu neuen Ufern aufgemacht. Gebraucht werden nicht mehr freizeitorientierte Rationalisten, sondern Nationalbekenntnisse und brustgeschwellter Pathoswille – eine Haltung, der sie verächtlich gegenüberstehen. Daher beginnt sich der Widerspruchsgeist, nach all den Jahren etwas ungeübt und in den Gelenken steif, zu regen. Als endlich ein weiterer früherer Kommilitone dem lechzenden Großmachtgestus eine eher symbolische Anschlagsserie entgegensetzt, beginnen Gregor, Leo und Anita den hohen Preis, den ihr Drang zur Mitte gekostet hat, zu realisieren.

Schimmangs sehr fein ausbalancierter Roman entwickelt sich verhalten, reflektierend, im Ton sehr elegant und zugleich mit dem Anspruch des natürlichen Realismus. Wo in Literatur und Kino ansonsten eine Nabelschau oder platter Unterhaltungsnonsens inszeniert wird, bleibt Schimmang angenehm unaufgeregt. Allerdings verengt sich sein Blick gelegentlich auf die romantische Orientierungslosigkeit eines Milieus, das zu schnell ausgewechselt wurde.

Diese Wohleingerichteten mochten ihre alte Bundesrepublik, konnten sogar dem unprätentiösen Finanzamt-Baustil des Bonner Regierungsviertels etwas abgewinnen. Schimmang erzählt beschwingt, dass sich die Dinge an die Rheinschleifen hielten, Menschen kamen noch aus Traben-Trarbach, die Westberliner Abgeordneten hatten nicht einmal Stimmrecht. Sicher, die BRD war ein Wohlfahrtsstaat und funktionierte vor allem öffentlich-rechtlich: Das Land war überschaubar und vermochte den sozialen Frieden vielleicht noch mit dem Quelle-Katalog herzustellen. Allerdings strapaziert so viel harmonisch-rationale Gemeinschaft auch an manchen Stellen: Irgendwo muss es noch industrielle Arbeit gegeben haben, mit gelegentlichen Lohnkämpfen vielleicht? Auf dem langen Weg nach Westen spielen solche Widersprüche keine Rolle. Bei all dem Naturalismus drängt sich irgendwann auch die Frage nach den Filbingers und Karstens auf, die in der Bonner Politik ihre Runden zogen. Ihr Fehlen trägt einiges zu Schimmangs gelassenem Geschmack der kleinen Republik bei: Eine Republik, in der ein korrupter Kanzler aus der Pfalz als Weltmann durchging.

Nachdem Schimmang mit seinem Roman „Der schöne Vogel Phönix“ (1979) den Weg aus der ostfriesischen Provinz ins k-Gruppen-umtoste Westberlin schaffte, steigt er nun mit feinsinniger Kritik hinten aus der Bundesrepublik wieder aus. Vor allem da sich sein sehr sympathischer Anspruch an Rationalismus angenehm vom lärmenden Ton der Gesamt- und Großdeutschen abwendet – ihm zugleich aber immer unterlegen scheint. Gregor und Leo fällt das neue Bürgertum der Berliner Republik mit ihrem unangenehmen Gestus auf die Nerven. „Was mich stört, ist der Glaube, wir seien nun da angekommen, wo wir schon immer hinwollten. Alles andere war nur Vorbereitung, verstehst du?“ begründet der Verfassungsschützer seinen vorzeitigen Ruhestand. „Jede Generation hält sich für das Ziel der Geschichte. Da kann man doch still lächeln und drüberstehen“, entgegnet ihm Gregor.

Titelbild

Jochen Schimmang: Das Beste, was wir hatten. Roman.
Edition Nautilus, Hamburg 2009.
320 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783894015985

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