Utopische Gleichheit

Ingrid Biermanns Studie zu Frauenbewegung und Inklusionspolitiken

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„An der Wende zum 21. Jahrhundert ist die Gleichheit der Geschlechter nicht mehr nur ein Anspruch der modernen Gesellschaft“, konstatiert Ingrid Biermann in ihrer Untersuchung mit dem Titel „Von Differenz zu Gleichheit“. Als Beleg für diese doch recht gewagte These führt sie unter anderem an, dass die Geschlechter „[b]ei der Partizipation an wissenschaftlicher Ausbildung“ in „vielen Disziplinen“ gleichzögen. Angesichts der Tatsache, dass die Luft für Frauen auch in der akademischen Hierarchie um so dünner wird, je höher sie aufsteigen, könnte man meinen, Biermann habe ihre Publikation zur „Frauenbewegung und Inklusionspolitiken im 19. und 20. Jahrhundert“ in einem fernen Utopia verfasst, dem die Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes unzugänglich sind. Denn diese besagen, dass Frauen noch im Jahre 2006 nicht einmal 15 % aller deutschen Professuren innehatten, was sich bis heute nicht nennenswert geändert hat.

Auch andere Behauptungen Biermanns möchte man nicht ohne Weiteres unterschreiben. So etwa wenn sie darlegt, dass sich Frauenrechtlerinnen „im 19. und frühen 20. Jahrhundert“ zur Begründung der „Forderung nach gesellschaftlichen Teilnamerechten“ für sich und ihre Geschlechtsgenossinnen „auch auf anthropologische und kulturelle Unterschiede zwischen Frauen und Männern“ beriefen. Das ist natürlich nicht falsch – aber eben nicht die ganze Wahrheit. Denn tatsächlich führten weite Teile des gemäßigten Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung sogar vermeintlich biologische Unterschiede an. Andererseits ignoriert Biermann hier die damaligen gleichheitsfeministischen Bestrebungen des radikalen Flügels der Frauenbewegung um Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann. Die waren zwar in der Minderheit, doch zählten zu ihren Mitstreiterinnen einige der klügsten feministischen Köpfe, zu denen neben dem genannten Führungsduo etwa Hedwig Dohm oder die Österreicherin Rosa Mayreder zählten, während die gemäßigten Differenzfeministinnen in dieser Hinsicht vor allem Marianne Weber vorzuweisen hatten.

Anders als die Erste Frauenbewegung um 1900 habe die Ende der 1960er-Jahre sich mächtig erhebende Zweite Welle des Feminismus „nicht mehr mit Differenz, sondern mit der sozialen Konstruktion des Geschlechts“ argumentiert. Auch das ist zumal für deren frühe Phase nicht ganz richtig und blendet etwa die italienische Feministinnengruppe Diotima oder das um 1980 verfasste Müttermanifest von Feministinnen aus, die bei den Grünen engagiert waren.

Insgesamt erscheint das herangezogene Quellenmaterial lückenhaft und vor allem für die Zweite Frauenbewegung nicht ganz repräsentativ. Zieht Biermann zur Untersuchung der Ersten Frauenbewegung neben Sammelbänden und Monografien aus den Jahren 1865 bis 1920 auch damalige Zeitschriften heran, „die der ersten Frauenbewegung unmittelbar als Sprachrohr dienten“, so verzichtet sie bei der Zweiten Frauenbewegung ohne Begründung – von kaum nennenswerten Ausnahmen abgesehen – auf letztere und konsultiert stattdessen neben Monografien und Aufsätzen lediglich Untersuchungen aus der Frauen- und Geschlechterforschung. Die Annahme liegt nahe, dass Biermann zwar nicht zu völlig anderen Ergebnissen, aber doch zu einem differenzierteren Bild gelangt wäre, wenn sie nicht nur einmal einen „EMMA“-Artikel über Frauenfußball, sondern etwa auch Texte aus der „schwarzen Botin“, der „Lesbenpress“ und vor allen aus der „Courage“ herangezogen hätte.

Reichlich Kritik also. Doch ist hervorzuheben, dass Biermann die Entwicklungstendenz der Frauenbewegungen zutreffend darstellt und im weiteren Verlauf ihrer Arbeit tatsächlich weit differenzierter argumentiert als in den obigen Zitaten, die dem Beginn ihrer Untersuchung entnommen sind. So führt sie schließlich doch noch – wenn auch nur beiläufig – sowohl die Diotima-Feministinnen wie auch das „Müttermanifest“ an. Und überhaupt liegt der Clou ihrer Arbeit nicht darin, die Entwicklung von der Differenz zur Gleichheit bloß festzustellen, sondern in der Ergründung der Frage, warum sie sich vollzog beziehungsweise warum sie sich vollziehen musste, wie die Autorin vielleicht sagen würde. Denn ihre Arbeit schließt nicht an „Diskurse über politische Richtungsstreite innerhalb der Frauenbewegung“ an, sondern fragt vielmehr nach der gesellschaftlichen „Rahmung des Engagements für Frauenrechte, nach dessen Einbettung in und dessen Anschlussmöglichkeiten an gesellschaftliche Differenzierungs- und Modernisierungsprozesse“.

Biermann argumentiert nun, dass sich das theoretische Verständnis von Gleichheit und Differenz der Feministinnen in Abhängigkeit zur „Ausbildung des modernen National- und Wohlfahrtsstaates“ entwickelt und verändert habe. Aus dieser These scheint die alte marxistische Basis-Überbau-Theorie hervorzuschauen, wobei an Stelle der Ökonomie als Basis allerdings allgemeinere gesellschaftliche Entwicklungen und Erfordernisse und an Stelle des ideologischen Überbaus die theoretischen Ansätze der Frauenbewegung getreten sind.

Die Ursache für die „Aussichtslosigkeit“, in der Zweiten Frauenbewegung „einen neuen Differenzfeminismus zu verankern“, liegt Biermann zufolge vor allem darin, dass sich aus ihm nicht länger „Forderungen und Maßnahmen ableiten ließen, um die Teilnahmechancen von Frauen in den Bereichen Bildung, Wissenschaft, Erwerbsarbeit und Politik auszuweiten“, denn anders als noch zu Beginn des Jahrhunderts ließen sich in dessen zweiter Hälfte mit differenztheoretischen Erwägungen keine „Einbeziehungsmuster in gesellschaftliche Teilbereiche“ mehr begründen. Insgesamt scheint Biermanns Argumentation zwar allzu monokausal, bietet jedoch zumindest ein diskutables Erklärungsmuster an, das immerhin auf einen nicht zu vernachlässigenden Bedingungszusammenhang für die theoretische Entwicklung der Frauenbewegung(en) verweist.

Dass die Autorin, die vor einigen Jahren unter dem Titel „Die einfühlsame Hälfte“ bereits mit einer Studie zu Weiblichkeitsentwürfen von 1830 bis 1933 hervorgetreten war, ihre neue Arbeit in einem recht kruden SoziologInnen-Deutsch hält, wird den Erkenntnisgewinn der Lektüre nicht unbedingt steigern, den Lesegenuss aber in jedem Fall mindern.

Titelbild

Ingrid Biermann: Von Differenz zu Gleichheit. Frauenbewegung und Inklusionspolitiken im 19. und 20. Jahrhundert.
Transcript Verlag, Bielefeld 2009.
204 Seiten, 25,80 EUR.
ISBN-13: 9783837612240

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