Macht und Ohnmacht eines Diktators

Ian Kershaw analysiert das Profil der NS-Herrschaft

Von Bernd ChristmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Christmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

War Hitler lediglich eine Marionette des Kapitalismus, standen hinter seiner Macht in Wahrheit die Bosse der Wirtschaftskonzerne, oder war er, wie Albert Speer es ausdrückte, eine "dämonische Gestalt", die mit ihren dunklen Kräften das wehrlose Deutschland in den Abgrund riss? Zwischen diesen beiden Extrempositionen bewegte sich jahrelang die Forschung über Hitler und die Frage, wie es möglich war, dass ein gesellschaftlicher Außenseiter eine solche Machtposition erlangen konnte.

Eine entscheidende Rolle bei der Beantwortung dieser Frage spielte die politische Stellung des Historikers. Während das marxistische Erklärungsmodell vor allem die unpersönlichen Faktoren betonte und in ihrer verdrehtesten Form Hitler als einen Agenten des Großkapitals sah mit der Zerschlagung der Arbeiterschaft beauftragt, stützte sich die "liberale" Geschichtsschreibung vor allem auf die Persönlichkeit Hitlers. Diese findet ihr Extrem im Konstrukt des "Hitlerismus", in dem Hitler als die Verkörperung der Macht schlechthin dargestellt wird.

Kershaw versucht nun in seinem Buch "Hitlers Macht" (1992) neue Aspekte offenzulegen und eine Art Mittelweg zu gehen. Der britische Historiker hat erst kürzlich den zweiten Band seiner Hitler Biographie vorgelegt.

"Hitlers Macht" nun scheint nichts anderes zu sein als eine Art Supplementband zu eben jener Biographie, auch wenn diese Analyse der NS-Herrschaft wesentlich früher entstanden ist.

So liest sich "Hitlers Macht" teilweise wie eine kleine Geschichte des Dritten Reiches, bedingt durch den großen Anteil der chronologischen Darstellung. Kershaw begnügt sich viel zu oft damit, den historischen Ablauf zu schildern, ohne die Abstraktion zu wagen. Die Anwendung von Max Webers Konzeption der charismatischen Herrschaft auf Hitlers Person wird viel zu schnell abgetan.

Auch wichtige Gesichtspunkte wie die inszenierte Massensuggestion der Reichsparteitage und der pseudoreligiöse Aspekt des Führerkultes werden vernachlässigt. Bestimmte Arten der Machtausübung wie beispielsweise das "Teile und herrsche"-Prinzip werden allzu stark vereinfacht. Interessante Ansätze gehen so leider verloren.

Das Buch entstand im Rahmen einer englischen Buchreihe namens "Profiles of Power" und war mit Sicherheit nicht als erschöpfende Monographie konzipiert. Eine wirklich innovative Analyse von Hitlers Macht ist auf knapp 240 Seiten auch kaum vorstellbar. Stellt sich also die Frage nach dem Sinn dieses Buches: Bedarf es überhaupt weiterer Publikationen zu einem Thema, das so eingehend wie kaum ein zweites in der wissenschaftlichen Literatur behandelt wurde?

Doch scheint gerade heutzutage, da es in der öffentlichen Diskussion Mode geworden ist, Machthaber wie Milosevic oder Hussein als "Neue Hitler" zu bezeichnen, eine gründliche Untersuchung von Hitlers Herrschaftsprofil dringend notwendig.

Insofern hat eine Neuausgabe von "Hitlers Macht" durchaus Berechtigung, auch wenn die Lektüre zumindest dem vorgebildeten Leser auf diesem Gebiet zu wenig neue Ansatzpunkte liefert. Gleichwohl ist das Buch in seiner sprachlichen Darstellung durchaus ansprechend und als Einführung in die Thematik zu empfehlen.

Auch als kurzer historischer Überblick ist Kershaws Arbeit geeignet, da sie gut gegliedert und auf dem neuesten Stand der Forschung die Fakten präsentiert.

Die Qualität dieses Buches hängt im Grunde genommen von der Erwartungshaltung des Lesers ab. Wer sich eine Beantwortung der Frage erhofft, wie Hitler seine Macht gegenüber den verschiedensten Gruppen durchsetzten konnte, wird enttäuscht sein: zu populärwissenschaftlich und zu knapp behandelt Kershaw das Thema. Wer jedoch einen Einstieg in die Geschichte des Dritten Reichs oder in die Biographie Hitlers sucht, der wird sich über ein informatives, gut strukturiertes und angenehm zu lesendes Buch freuen.

Titelbild

Ian Kershaw: Hitlers Macht. Das Profil der NS-Herrschaft. (Kultur und Geschichte).
dtv Verlag, München 1999.
266 Seiten, 10,20 EUR.
ISBN-10: 3423307579

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