„Warum unterscheidet sich diese Nacht von allen anderen Nächten?“

Dara Horns mächtiger Roman über einen Juden im amerikanischen Bürgerkrieg

Von Winfried StanzickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Winfried Stanzick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man muss vorab schon einmal den Hut vor dieser enormen Rechercheleistung von Dara Horn ziehen, die sich über Jahre hinzog und deren Ergebnis ein eindrucksvoller Roman über den amerikanischen Bürgerkrieg ist. Es geht in diesem Buch voller Farbigkeit und Dichte um die bisher vor allem in Europa nur kaum bekannte Rolle, die viele der um 1860 etwa 130.000 in Amerika lebenden Juden im Bürgerkrieg spielten. Eine Anzahl von ihnen war spanisch-jüdischer Herkunft und zum Teil bereits um die Mitte des 17. Jahrhunderts aus der Karibik und Lateinamerika nach Nordamerika eingewandert. Der größte Teil von ihnen jedoch war deutsch-jüdischer Abstammung und kam zu Beginn des 19. Jahrhunderts in die USA. Die größten jüdischen Gemeinden befanden sich damals in New York und New Orleans, zwei Schauplätzen des vorliegenden Romans. Wie in vielen politischen Streitfragen waren die Juden in den USA unterschiedlicher Meinung, und so kämpften jüdische Männer und Frauen auf beiden Seiten des Bürgerkrieges, bei der Union und bei den Konföderierten.

Dara Horn hat mehrere historische Personen in die Handlung des Romans um ihren erfundenen Protagonisten Jacob Rappaport eingebaut, darunter Judah P. Benjamin. Dieser war das erste nicht konvertierte jüdische Kabinettsmitglied der amerikanischen Geschichte, der gegen Ende des Bürgerskriegs als Außenminister der Südstaaten-Konföderation ein glühender Anhänger der Freilassung der Sklaven und ein begnadeter Redner war. Auch die vier Frauen, in deren Familie Rappaport von der Union, deren Armee er sich angeschlossen hat, geschickt wird, haben alle historische Vorbilder, wie Horn im Nachwort erläutert, in dem sie alle ihre Quellen offen legt.

Rappaport ist der Sohn wohlhabender jüdischer Einwanderer. Eines Tages beim Essen konfrontiert ihn sein Vater mit der Entscheidung, er habe aus wirtschaftlichen Gründen mit einem Geschäftpartner die Eheschließung von Jacob mit der geistig zurückgebliebenen Tochter des Partners vereinbart. Jacob widerspricht nicht, aber schon am nächsten Tag flieht er von zu Hause nach New York, wo er sich der Unionsarmee anschließt. Deren Geheimdienstoffiziere haben gleich einen besonderen Auftrag für ihn. Er soll nach New Orleans reisen und dort seinen eigenen Onkel töten, der angeblich ein Mordkomplott gegen Abraham Lincoln plant.

Schon dort am Tisch von Harry Hyams taucht die für jeden Juden wichtige Frage auf, die in der Sedernacht vom jüngsten Familienmitglied gestellt wird: „Warum unterscheidet sich diese Nacht von allen anderen Nächten?“, worauf der Vater mit der Erzählung der Errettung der Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei antwortet. Schon hier wird der Leser mit dem immer wieder in dem Buch thematisierten Widerspruch konfrontiert, dass während dieses Geschehens wie selbstverständlich schwarze Sklaven das Mazzenbrot und den Wein reichen.

Der Giftanschlag Jacobs auf seinem Onkel Harry gelingt, ein Sklave, der in dem entstehenden Aufruhr die Gelegenheit zur Flucht ergreift, wird verdächtigt und Jacob kann sich wieder entfernen. Doch nur kurz währt seine Pause, denn die Geheimdienstoffiziere vertrauen ihm gleich darauf seinen nächsten Auftrag an.

Jacob ist jemand, der ungerne widerspricht, und so wird er spätestens ab hier zu einem Getriebenen, einem Mann, der nie am Ort seiner Wahl bleiben darf, bis am Ende des Romans so etwas wie eine Lebensperspektive auftaucht, die seinem Leben einen Sinn und etwas Ruhe verheißt.

Sein zweiter Auftrag führt ihn wieder in die Südstaaten zur Familie Levy. Dort lebt die schöne Eugenia Levy mit ihrem Vater und ihren drei Schwestern. Eugenia ist Doppelagentin und er soll im Auftrag der Yankees deren Leben observieren und Informationen weiterleiten. Am besten gelinge das, so seine Order, wenn er sie heirate. Doch Jacob verliebt sich in Eugenia. Irgendwann wird sein doppeltes Spiel von einer der anderen Schwestern aufgedeckt und er muss fliehen. Darauf beginnt eine wahre Odyssee zwischen den sich verschiebenden Frontlinien der Yankees und der Konföderation und Jacob macht irgendwann die Bekanntschaft Judah P. Benjamins, wird dessen engster Mitarbeiter und erlebt die Kapitulation der Südstaatenregierung mit.

„Vor allen Nächten“ ist ein großer Roman, sprachmächtig und von einer großen, nicht nur durch den historischen Stoff bedingten Intensität. Die vielen Informationen aus dem Spionagewesen, die sprachlichen Geheimcodes und wie sie entschlüsselt werden, wurden von der Autorin gut recherchiert. Ein ganz besonderer sprachlicher Leckerbissen sind die langen Anagramme, die die Autorin Eugenias Schwester Rose in den Mund legt, und die wohl für die beiden Übersetzerinnen eine ganz eigene und seltene Herausforderung waren.

Titelbild

Dara Horn: Vor allen Nächten. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Christiane Buchner und Martina Tichy.
Berlin Verlag, Berlin 2009.
480 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783827008701

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