Revolutionär aus dem Tessin

Alberto Nessis Roman „Nächste Woche, vielleicht“ erinnert an den sozialen Aufbruch in die Moderne

Von Luitgard KochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Luitgard Koch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich heisse José, bin einunddreissig Jahre alt und Buchhändler in Lissabon. Ich bin lungenkrank und will die Welt verändern.“ Mit diesen schwergewichtigen Sätzen stellt der Lyriker und Schriftsteller Alberto Nessi seinen Protagonisten vor. Der Tessiners, einer der bedeutendsten Autoren der Schweiz, schildert in seinem historischen Roman eindrucksvoll das Leben von José Fontana, der eine Gründerfigur der sozialistischen Partei in Portugal war. Ursprünglich stammte er aus dem bitterarmen Muggiotal im Tessin.

José Fontana ist ein einfacher Mann, dessen Jugend von Armut und Einfachheit geprägt war. Aber auch der Zweifel am Glauben prägt ihn. Lebhaft sprudeln die Worte hervor, mit der er seine Kindheit beschwört, in der die Wunder der Natur und die Ereignisse im Dorf sich im Kopf des jungen José breit machen. Von Vogelsang und Erlenschatten, von Wiesen, Weinterrassen und Fledermäusen ist die Rede, von den ersten Toten, die der kleine Junge sieht, dem ersten Frauenduft, und etlichen rituellen Kirchenfesten samt Beichte, die ihn neugierig machen.

Mit 31 Jahren kommt Fontana aus dem Tessin nach Lissabon. Dort will der Emigrant das Gute suchen, um die Welt zu verändern. Als der Auswanderer in Lissabon in der alten Buchhandlung Bertrand eine Anstellung bekommt, ist er neugierig, mehr über Armut und Reichtum zu erfahren, über das Zusammenleben der Menschen und über die Bücher, von denen er umgeben ist. Fontana findet in Lissabon Genossen, die ihn Geschichte lehren und mit ihm Argumente für eine sozialere Welt diskutieren. Dabei erörtern ihre Gesprächen die französische Revolution von 1789, sie sprechen über Kriege und deren Auswirkungen, thematisieren Religion, Ausbeutung sowie den revolutionären Kampf.

Die dramaturgisch gut aufgebaute Geschichte, deren einzelne mit Jahreszahlen von 1871 bis 1876 überschriebenen Kapitel Essays gleichen, widmet sich anfangs einfachen philosophischen Fragen, beispielsweise wie das Gute und das Böse beschaffen ist, beleuchtet die Kindheit des Helden und die Kunst im Allgemeinen. Das fiktive Tagebuch beginnt poetisch und sensibel, um dann in einen Bericht über die Anfänge des Sozialismus in Portugal und Frankreich überzugehen.

Der Figur dieses Tessiner Revolutionärs, dessen Gedanken und Überlegungen nicht selten wehmütig um den Tod und die Vergeblichkeit kreisen, verleiht der 69-jährige Publizist und Dichter Vitalität, Gewicht und eine berührende Tiefe. Er wird mit seinem Schicksal zum Paradebeispiel für die Tragik eines gescheiterten revolutionären Aufbruchs. Anschaulich verdeutlicht Nessi die brutale Niederschlagung des ersten sozialistischen Experiments, der Pariser Kommune von 1871. Vor allem besticht die Menschenfreundlichkeit des Autors, der sensible Umgang mit seinen Helden – die dichte Atmosphäre, die er mit einfachen Sätzen schafft, beeindruckt. Nessi erzählt nicht nur von Elend und Unrecht. Die Würde, die er den Armen und Rechtlosen verleiht, legt in ihre Niederlagen den Keim künftigen Aufruhrs. Indem der Autor auf die Spuren des störrischen Beharrens aufmerksam macht, vermittelt sein facettenreiches Sozialgemälde des 19. Jahrhunderts trotz allem Hoffnung. Geschickt schafft der literarisch versierte Erzähler die Verbindung zum Heute und zeigt mit seinem sehr persönlichem poetisch-romantischen Geschichtsbuch, dass Solidarität und Liebe die Voraussetzung für Gerechtigkeit sind.

Titelbild

Alberto Nessi: Nächste Woche, vielleicht. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Maja Pflug.
Limmat Verlag, Zürich 2009.
170 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9783857915789

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